Beim diesjährigen 74. Sudetendeutschen Tag in Augsburg rückte Europa mehr denn je ins Zentrum des traditionellen Pfingsttreffens der Sudetendeutschen.
Ein Hauch von Kolatschen liegt in der Luft. Dicht drängen sich die Besucher auf dem Augsburger Messegelände um die vielen Stände von Heimatvertriebenen und Heimatverblieben sowie weiterer Organisationen aus Deutschland, Tschechien und Österreich, die sich an diesem Pfingstwochenende im Mai in der Aktionshalle des Sudetendeutschen Tags präsentieren. Fast 80 Jahre nach der Vertreibung ist das Interesse am Sudetendeutschen Tag noch immer groß. Heute sind es überwiegend die Generationen, welche die Vertreibung nicht mehr selbst miterlebt haben, die sich für die Pflege von Traditionen einsetzen, Erinnerungen wachhalten und das Erbe ihrer Vorfahren weiterführen.
Seit einigen Jahren ist der Sudetendeutsche Tag aber weit mehr als nur die Selbstvergewisserung, dass alte Traditionen noch immer gelebt werden. Mehr denn je wagte das Pfingsttreffen der Sudetendeutschen in diesem Jahr den Blick über sich selbst hinaus und stellte Europa, auch vor dem Hintergrund der kommenden Europawahlen, in den Mittelpunkt. Bereits das Motto „Sudetendeutsche und Tschechen – miteinander für Europa“, das sich die Sudetendeutsche Landsmannschaft in diesem Jahr erwählte, ließ vorausblicken, wie das Pfingstwochenende gestaltet sein würde.
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Am Pfingstwochenende fand in Augsburg der 74. Sudetendeutsche Tag statt. Wir haben die Höhepunkte des diesjährigen Pfingsttreffens der Sudetendeutschen für Sie festgehalten.
Mehr…Europäischer Karls-Preis für Jean-Claude Juncker
„Die moderne europäische Einigung ist eine sudetendeutsche Erfindung“, sagte Bernd Posselt, Bundesvorsitzender der Landsmannschaft und Sprecher der sudetendeutschen Volksgruppe am Samstag zur Verleihung des Europäischen Karls-Preises an den langjährigen luxemburgischen Premierminister und früheren Präsidenten der Europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker. Damit erinnerte Posselt an die Gründung der Paneuropa-Bewegung durch Richard Graf Coudenhove-Kalergi im Jahr 1922. Heute ist der ehemalige CSU-Europaabgeordnete Posselt selbst Vorsitzender der Paneuropa-Union und hat auch die Sudetendeutsche Landsmannschaft in den vergangenen Jahren auf den Europa-Kurs eingeschworen. Dass Jean-Claude Juncker, der neben seiner Muttersprache Luxemburgisch fließend Deutsch, Französisch und Englisch spricht, mit dem Karls-Preis die höchste politische Auszeichnung der Sudetendeutschen Landsmannschaft erhält, ist daher nur folgerichtig.
Posselt würdigte Juncker als einen herausragenden Staatsmann und luxemburgischen Patrioten, „der gleichzeitig keinem Nationalstaat gehört, sondern allen Europäern“. Der 69-Jährige erhielt den Karls-Preis für sein Mitwirken an der europäischen Integrationspolitik der vergangenen 50 Jahre sowie für sein Engagement für die Befreiung Mittel- und Osteuropas. Posselt verglich Juncker mit dem Namensgeber für diesen Preis, Kaiser Karl IV., der wie kein anderer mittelalterlicher Herrscher verschiedene Sprachen und Zugehörigkeiten – auch in sich selbst – vereinigte. „Dieses Europa von Karl IV., das hat immer diesen Kontinent geprägt, auch unter späteren anderen Dynastien und erst recht in unserem demokratischen Zeitalter, wo wir Europa demokratisch zusammenschließen mit einem starken Parlament, mit einer supranationalen Demokratie. Für diese Idee steht wieder in besonderer Weise ein Luxemburger, nämlich mein alter Freund Jean-Claude Juncker“, so Posselt.
Für die Art und Weise, wie die Sudetendeutschen mit ihrer Vergangenheit umgingen, zeigte sich Juncker in seiner Dankesrede zur Verleihung des Karls-Preises begeistert. Sowohl die Erlebnis- als auch die Bekenntnisgeneration habe die Völkerverständigung zwischen und Deutschen und Tschechen als „fast heiligen Auftrag“ begriffen. Dieses Erbe verpflichte dazu, auch weiterhin gemeinsam das Beste für Europa zu geben, so Juncker, der aus gesundheitlichen Gründen den Preis nicht persönlich in Augsburg entgegennehmen konnte und mit einem vorab aufgezeichneten Video zum Publikum sprach.
Zur europäischen Einigung gehören auch die Anerkennung und das friedliche Zusammenleben mit den nationalen Minderheiten, zu denen in Europa mehr als 50 Millionen Menschen zählen. Seit ihrer Gründung im Jahr 1949 setzt sich die Föderalistische Union Europäischer Nationalitäten (FUEN) für die Erhaltung und Förderung der Identität, Sprache, Kultur, Rechte und Traditionen der europäischen Minderheiten ein. Mehr als 100 Mitgliedsorganisationen aus 36 europäischen Ländern, darunter auch die Landesversammlung der deutschen Vereine in der Tschechischen Republik, sind unter ihrem Dach vereint. Nun wurde die Arbeit der FUEN in Augsburg mit dem Menschenrechtspreis der Sudetendeutschen Landsmannschaft gewürdigt. „Wir Sudetendeutschen“, so Posselt, „waren bei der Föderalistischen Union Europäischer Volksgruppen, heute Föderalistische Union Europäischer Nationalitäten, von Anfang an dabei, weil es darum ging, den Mörtel anzurühren für die Fundamente der europäischen Einigung.“ Olivia Schubert, Vize-Präsidentin der FUEN und stellvertretende Vorsitzende der Landesselbstverwaltung der Ungarndeutschen (LdU), nahm den Preis entgegen.
Aufruf zur Europawahl
Der 74. Sudetendeutsche Tag stand aber auch im Zeichen der Europawahl Anfang Juni. Bernd Posselt warnte in seiner Rede zur Hauptkundgebung am Pfingstsonntag vor einem Wiedererstarken des Nationalismus in Europa: „Er erhebt sein hässliches Haupt in der Gestalt von Parteien wie AfD und der Wagenknecht-Partei. Der Nationalismus ist in ganz Europa dabei, alles zu zerstören an Kostbarem, was unsere ältere Generation nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebaut hat.“ Dagegen helfe nur, zur Europawahl zu gehen und das demokratische Europa zu stärken, so Posselt in der Augsburger Messehalle, die am Sonntag noch stärker gefüllt war als am Samstag. Nicht zuletzt ist das Europäische Parlament eines, dem (Sudeten)Deutsche und Tschechen wieder gemeinsam angehören und in dem sie auch zusammenarbeiten, woran auch Posselt erinnerte.
In der tschechischen Politik steht man dem Annäherungskurs der Sudetendeutschen Landsmannschaft der letzten Jahre aufgeschlossen gegenüber. Nachdem 2016 mit Daniel Herman erstmals ein tschechischer Minister und im vergangenen Jahr mit Mikuláš Bek erstmals ein Minister im Namen der gesamten tschechischen Regierung auf dem Sudetendeutschen Tag auftrat, fiel diese Rolle in diesem Jahr dem tschechischen Botschafter in Berlin, Tomáš Kafka, zu. Dieser lobte die Annäherung der vergangenen Jahre. „Aus der heutigen Sicht kann man eindeutig sagen, dass sich in den deutsch-tschechischen wie auch sudetendeutsch-tschechischen Beziehungen Elemente von Partnerschaft und Verständigung, Vertrauen und Verbundenheit schon längerfristig durchzusetzen wissen“, zeigte sich Kafka erfreut und dankte den Sudetendeutschen für „all diese Schritte zu einer besseren Verständigung“. Einem Sudetendeutschen Tag in der Heimat in den kommenden Jahren ist man in Augsburg wieder ein Stück näher gerückt.
Bayerns Ministerpräsident Markus Söder, der gleichzeitig Schirmherr über die Sudetendeutsche Volksgruppe ist, war der letzte, von vielen in der Halle heiß erwartete Redner auf der Hauptkundgebung am Pfingstsonntag. Auch Söder lobte den aktuellen Stand der deutsch-tschechischen Beziehungen und würdigte die Leistungen der Sudetendeutschen Landsmannschaft und insbesondere Bernd Posselts zur deutsch-tschechischen Verständigung, bevor er sich in seiner Rede angesichts der kommenden Wahlen auch innenpolitischen Themen und Seitenhieben auf die Ampel-Regierung widmete.
Eingerahmt wurden die politischen Auftritte und Reden wie immer durch ein vielfältiges kulturelles Programm. Bereits am Freitagabend sorgte die festliche Verleihung der Sudetendeutschen Kulturpreise im goldenen Saal des Augsburger Rathauses für einen ersten Höhepunkt. Am Samstag herrschte beim „HEIMAT!abend“ mit Tracht, Musik und Tanz ausgelassene Stimmung in der Augsburger Messehalle. Auch das Böhmische Dorffest begeisterte die Besucher, unter anderem mit zahlreichen kulinarischen Spezialitäten wie Kolatschen und Liwanzen oder böhmischen Knackern.
Präsentiert hatte sich auf dem Sudetendeutschen Tag wie immer auch die deutsche Minderheit aus Tschechien: mit Informationsständen aber auch mit Vorträgen, etwa zum aktuellen Stand der Situation rund um deutsche Gräber in der Tschechischen Republik oder zur EUROPEADA, der europäischen Fußballmeisterschaft der nationalen Minderheiten, bei der die deutsche Minderheit in diesem Jahr mit einem eigenen Team antritt.
Verleihung der Sudetendeutschen Kulturpreise
Ein erster Höhepunkt des Wochenendes stellte am Freitagabend die festliche Verleihung der Sudetendeutschen Kulturpreise dar. Nach der Begrüßung durch Otfried Kotzian, den Vorstandsvorsitzenden der Sudetendeutschen Kulturstiftung, und Grußworten von Jürgen Enninger, Referent für Kultur, Welterbe und Sport der Stadt Augsburg, sowie Ulrike Scharf, Bayerische Staatsministerin für Familie, Arbeit und Soziales, konnte die feierliche Preisverleihung beginnen.
Den Kulturpreis für Literatur und Publizistik erhielt die 1940 in Radowenz (Radvanice) bei Trautenau (Trutnov) geborene Wolftraut de Concini. Die Publizistin und Fotografin lebt seit 1964 in Italien. Im Jahr 2011 fand sie bei einer Reise in ihre Heimat den zweisprachigen Ausweisungsbefehl und fasste den Entschluss, die Strecke der Vertreibung nachzuwandern. Es war der Ausgangspunkt für ihr erstes, 2013 erschienenes literarisches Werk „Böhmen hin und zurück“. 2015 war sie Stadtschreiberin des Deutschen Kulturforums östliches Europa in der damaligen Kulturhauptstadt Pilsen (Plzeň), wo sie sich mit der Geschichte und Gegenwart verschiedener Minderheiten – Deutsche, Juden und Roma – beschäftigte. Unter anderem waren verlassene und verschwundene ehemals deutsche Dörfer in der Umgebung Thema ihrer Texte und Fotografien.
Mit dem Kulturpreis für darstellende Kunst und Musik wurde die 1964 in München geborene Eva Herrmann ausgezeichnet. Die Pianistin mit mütterlichen Wurzeln in Abertham (Abertamy) studierte Kirchenmusik, Klavierpädagogik und Vokal-Korrepetition und ist seit 1995 Lehrbeauftragte an der Universität Regensburg. Daneben unterrichtet sie an der Städtischen Sing- und Musikschule sowie am Musischen Zweig des Von-Müller-Gymnasiums in Regensburg. Seit den späten 1980er Jahren bringt sich Herrmann in die Musikkulturpflege der Sudetendeutschen ein und interpretierte in vielen Konzerten Werke sudetendeutscher Komponisten wie Wenzel Johann Tomaschek, Joseph Labitzky, Edmund Nick, Fred Schaubelt, Viktor Ullmann, Oskar Sigmund und Widmar Hader.
Der Kulturpreis für Heimat- und Volkstumspflege ging an Roland Hammerschmied. 1967 in Falkenau (Sokolov) geboren, ist Hammerschmied seit 1978 Mitglied der Eghalanda Gmoi z’Geretsried. Seit über 40 Jahren pflegt und übermittelt er Mundart, Lieder und Volkstänze, die teilweise nur mündlich überliefert wurden. Er hat es geschafft, einen der besten Chöre der Egerland-Jugend zu etablieren, der alte Volkslieder in Mundart singt. Daneben gehören das Entstehen der Gartenberger Bunkerblasmusik sowie des A-cappella-Chors Mixed Voices 1992 zu seinen Verdiensten. In der Eghalanda Gmoi z’Geretsried ist er neben seinem Amt als Sing-, Tanz- und Musikleiter auch stellvertretender Vorstand. Zusätzlich arbeitet er im Landes- und Bundesverband aktiv mit.
Den Großen Sudetendeutschen Kulturpreis erhielt schließlich die 1933 in Tetschen (Děčín) geborene Gertrude Krombholz. Nach der Vertreibung legte Krombholz am Städtischen Mädchenrealgymnasium in Regensburg das Abitur ab und studierte anschließend Sport, Chemie und Geographie für das Lehramt an Gymnasien. Daneben absolvierte sie eine tänzerische Ausbildung und legte die Prüfung als Tanzlehrerin des Allgemeinen Deutschen Tanzlehrerverbandes (ADTV) ab. Nach ihrer Tätigkeit am Staatlichen Landschulheim Marquartstein war sie Dozentin, dann Leiterin der Sportphilologinnenausbildung an der Bayerischen Sportakademie und war schließlich bis zu ihrer Pensionierung Leitende Akademische Direktorin der Sportlehrerausbildung an der Technischen Universität München (TUM).
Sie war Chefhostess und Mitchoreografin für die Eröffnungs- und Schlussfeiern der Olympischen Spiele von 1972, 1976 und 1980 und entwickelte 1973 ihre Idee für den Rollstuhltanz, den sie im In- und Ausland verbreiten und schließlich in den internationalen Behindertenverbänden (ISOD, EPC, IPC) als Vorsitzende des „Wheelchair Dance Sport Committee“ etablieren konnte. Als „Member of the Paralympic Order“ (2002) gehört sie heute zur Paralympic Family.
Anhand überlieferter Quellen und Literatur rekonstruierte sie 1976 den mittelalterlichen Moriskentanz und gründete die Münchner Moriskentänzer. Zwei Jahre später studierte sie Neuere Geschichte und promovierte 1981 summa cum laude; ihre Dissertation wurde vom Bund der Freunde der TUM mit dem Preis für eine der besten Doktorarbeiten ausgezeichnet. Nach dem Eintritt in den Ruhestand stiftete sie den nach ihr benannten und erstmals 1998 verliehenen Preis der TUM für die besten wissenschaftlichen Arbeiten in der angewandten Sportwissenschaft.