Ein halbes Jahr lang dokumentierte die Landesversammlung der deutschen Vereine in der Tschechischen Republik den Zustand von 15.000 deutschen Gräbern in den Bezirken Aussig und Karlsbad. Das traurige Ergebnis: Mehr als die Hälfte der Gräber befindet sich in einem katastrophalen Zustand. Das zeigen auch Fotografien, die nun in einer eindrucksvollen Ausstellung zu sehen sind.
Die einstige Tschechoslowakei zählte einmal mehr als drei Millionen deutschsprachige Bürger. In den Grenzregionen zu Deutschland und Österreich und vor allem auch den „deutschen Sprachinseln“ – z.B. dem Schönhengstgau (Hřebečsko) oder in der Region um Iglau (Jihlava) – stellte die deutschsprachige Bevölkerung sogar die Mehrheit dar. Nach deren Vertreibung im Fortgang des Zweiten Weltkriegs erinnern heute vielerorts nur noch alte deutsche Friedhöfe an sie, doch auch dieses letzte Zeugnis der Vergangenheit droht für immer zu verschwinden. Über Jahrhunderte hatte die deutschsprachige Bevölkerung das wirtschaftliche und kulturelle Leben in diesen Regionen bedeutend mitgeprägt.
In Karlsbad wurden 550 deutsche Gräber erfasst, sowie 44 weitere, die vermutlich der deutschen Minderheit zuzuschreiben sind. Foto: Michaela Danelová
Erstmals umfassende Dokumentation deutscher Gräber
Seit einigen Jahren setzt sich die Landesversammlung der deutschen Vereine in der Tschechischen Republik verstärkt für den Erhalt der deutschen Gräber ein und versucht, die tschechische Mehrheitsgesellschaft auf das Thema aufmerksam zu machen. Doch in der öffentlichen Debatte fehlten bislang verlässliche und wissenschaftlich fundierte Daten darüber, wie viele deutsche Gräber es heute in Tschechien überhaupt noch gibt und in welchem Zustand sie sich befinden. Deshalb begann die Landesversammlung zu Beginn dieses Jahres eine umfassende Dokumentation sowie eine statistische Erhebung der deutschen Gräber, zunächst in den Bezirken Karlsbad (Karlovy Vary) und Aussig (Ústí nad Labem). „Wir haben deutsche Gräber auf 50 Friedhöfen in insgesamt 47 Orten dokumentiert. Dabei haben wir alle größeren Städte im Karlsbader und Aussiger Bezirk sowie historisch bedeutsame lokale Friedhöfe einbezogen. In den letzten 75 Jahren wurden Hunderte Friedhöfe mit deutschen Gräbern zerstört. Mit ihnen verschwindet oft auch der letzte Hinweis auf die deutschsprachige Bevölkerung, die sich um den Aufbau von Städten, der Region und der Industrie verdient gemacht oder zumindest dazu beigetragen hat“, berichtet Martin Dzingel, Präsident der Landesversammlung.
Seit 2015 bereits beschäftigt sich eine Arbeitsgruppe beim Regierungsrat für Menschenrechte der Tschechischen Republik (Rada vlády pro lidská práva) mit dem Thema. Ein erster Schritt war die Herausgabe eines Handbuchs für Gemeinden, wie der Erhalt der alten Gräber bewerkstelligt werden kann – von der Beantragung von Geldern bis zur tatsächlichen Restaurierung. In Tschechien besteht keine gesetzliche Pflicht der Gemeinden zur Grabpflege, sodass sich der Zustand vieler deutscher Gräber in den vergangenen Jahren in den meisten Regionen bis auf wenige Ausnahmen verschlechtert hat. „Die Kommunen tun oft nichts, sie verwenden das Geld aus dem Budget für die Dinge, die am dringendsten sind, wie zum Beispiel Straßenreparaturen. Daher ist es notwendig, einen besonderen Posten im Staatshaushalt vorzusehen, der nur für diese Zwecke bestimmt ist. Die Tschechische Republik hat sich im Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit mit der Bundesrepublik Deutschland aus dem Jahr 1992 zur Pflege der deutschen Gräber verpflichtet“, erklärt Dzingel. Dazu kommt natürlich der Umstand, dass die Nachfahren der Verstorbenen in den meisten Fällen nicht mehr in den betroffenen Ortschaften leben und sich nicht um die Gräber kümmern können oder wollen.
Offene Gräber und sichtbare Knochen
Ein erstes Ergebnis der Erhebung ist, dass sich die Mehrheit der 15.000 dokumentierten Gräber in einem überaus schlechten Zustand befindet. Die Journalistin Lucie Römer, die zum Projektteam gehört, gibt ein eindrückliches Bild: „Manche Gemeinden kümmern sich wirklich und überlegen sich, welche Gräber sie lassen und welche nicht, aber es gibt viele, die sie verfallen lassen. Wir waren an manchen Friedhöfen, die es da eigentlich nicht mehr gibt. Da ist nur eine Wiese und sonst nichts, nur ein paar Bäume, die erkennen lassen, dass es da früher einmal einen Friedhof gab. Der Besuch vieler Friedhöfe ist sogar gefährlich. Zum Beispiel in Sonnenberg (Výsluní), da sind Gräber, die Löcher haben, so riesige Löcher, dass wir Angst hatten reinzufallen. Man sieht das nicht gleich, weil alles mit Blättern zugedeckt ist. Oft kann man dort auch menschliche Knochen sehen.“
Der Friedhof in Sonnenberg (Výsluní). Foto: Michaela Danelová
Wie hingegen ein pietätvoller Umgang mit der Geschichte aussehen kann, zeigen einzelne andere Friedhöfe, bei denen es gelungen ist, die deutschen Gräber wieder in einen gepflegten und ansehnlichen Zustand zu bringen. Oft sind es vor allem junge Menschen, unbelastet von den tragischen Ereignissen zwischen Tschechen und Deutschen im 20. Jahrhundert, die sich für die Geschichte ihrer Orte interessieren und lokale Initiativen zur Wiederinstandsetzung der Gräber starten. So zum Beispiel in Schönpriesen (Krásné Březno), einem Ortsteil von Aussig. „In Schönpriesen war der Abriss der Friedhofskapelle geplant. Wir haben eine Webseite erstellt, Medien kontaktiert und beantragt, die Kapelle als Kulturdenkmal zu registrieren. Die Einheimischen hat das interessiert und sie sahen es sich an. Sie erkannten die Bedeutung des Ortes und boten ihre Hilfe an. Wir haben den Abriss gestoppt und in wenigen Jahren vier Millionen Kronen in die Reparatur investiert“, berichtet Martin Krsek, Historiker und Kurator des Aussiger Stadtmuseums. Die Wiedereröffnung der Friedhofskappelle ist im Herbst 2020 geplant.
Ausstellung: „Gruß von der anderen Seite“
Teil des Projektteams ist auch die Fotografin Michaela Danelová, die die Dokumentation mit ihrer Kamera begleitete. Entstanden sind unzählige beeindruckende Fotos, von denen nun in einer Ausstellung mit dem Titel „Gruß von der anderen Seite“ (Pozdrav z druhé strany) eine Auswahl zu sehen ist. Die Fotografien zeigen die einzigartige Kunstfertigkeit von Grabsteinen und Grabanlagen, zu sehen sind auch viele – teils nur schlecht erhaltene – Grabstein-Porträts, die eine vermeintliche Nähe zu den Verstorbenen herstellen. Nicht zuletzt dokumentieren die Fotografien auch den oft miserablen Zustand der Gräber, wobei viele der Aufnahmen trotzdem von einer friedlichen und fast mystischen Stimmung geprägt sind.
Martin Dzingel und Lucie Römer bei der Eröffnung der Ausstellung „Gruß von der anderen Seite“. Foto: Lara Kauffmann
„Ich gratuliere zu dieser Ausstellung und danke der Landesversammlung sowie dem Projektteam“, sagte Helena Válková, die Beauftragte der tschechischen Regierung für Menschenrechte, bei der Eröffnung der Ausstellung am 8. September in der Galerie Sněmovní 7. „Für mich ist das Projekt eine Herzensangelegenheit“, fügte Válková hinzu, die das Projekt begleitete und selbst einen deutsch-tschechischen Familienhintergrund hat.
Das Thema der deutschen Gräber wird die deutsche Minderheit sowie die tschechische Gesellschaft insgesamt auch noch in den nächsten Jahren beschäftigen. Kürzlich hat das Regierungsamt der Tschechischen Republik (Úřad vlády České republiky) 1,8 Millionen Kronen (ca. 67.700 Euro) für eine ähnliche Dokumentation deutscher Gräber in der gesamten Tschechischen Republik ausgeschrieben. Diese soll in den nächsten Jahren durchgeführt werden. „Am Ende geht es um die Frage: Wollen wir die Gräber retten oder lassen wir sie verfallen?“, so Lucie Römer.
Die Ausstellung ist noch bis zum 7. Oktober in der Galerie Sněmovní 7 zu sehen. Danach kommt sie vom 12. Oktober bis 16. November in die Karlsbader Kreisbibliothek und vom 18. November bis 11. Dezember in die Friedhofskappelle von Schönpriesen. Gleichzeitig zur Ausstellungseröffnung ist eine Broschüre über die Gräber in den Bezirken Karlsbad und Aussig entstanden, die Sie hier herunterladen können.
Die Ausstellung ist noch bis zum 7. Oktober in Prag in der Galerie Sněmovní 7 zu sehen. Danach kommt sie nach Karlsbad und Aussig. Foto: Lara Kauffmann
Das Projekt wurde finanziert vom Tschechischen Regierungsamt und vom deutschen Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat.