In Tschechien kommt es zu den größten Demonstrationen seit 1989 gegen Andrej Babiš und seine Regierung. Wie lange kann der Premier das ignorieren?
Auch ein vor fast 30 Jahren nach Böhmen Zugewanderter lernt noch etwas dazu. Zu meinen gewonnenen festen Überzeugungen gehörte bislang, dass die Bevölkerung dieses Landes erstens nicht zu großen Demonstrationen neigt, und zweitens schon gar nicht in Zeiten, da es reichlich auf Chata (dem Wochenendhaus) zu tun gibt. Ich erinnere mich vor allem an Demos im Winter, wo das Gartenland brach lag. Das ist seit diesem Jahr anders.
„Rücktritt, Rücktritt!“, schallt es seit Wochen regelmäßig von großen Demos in Prag, aber auch anderswo. Man regt sich nicht mehr nur beim Bier in der Kneipe über die Politiker auf, sondern jetzt auch auf Straßen und Plätzen. „Eine Million Augenblicke für die Demokratie“ heißt die Initiative, die beinahe jede Woche im ganzen Land zu Demonstrationen aufruft. Aufs Korn genommen werden Premier Andrej Babiš und seine neue Justizministerin Marie Benešová. Ersterer wegen seiner mutmaßlichen illegalen Abzocke von Millionen EU-Geldern für sein Firmenimperium. Letztere, weil sie im Verdacht steht, die mutmaßlichen Schweinereien des Premiers decken zu wollen.
Seit aus Brüssel ein vorläufiger Untersuchungsbericht über die Subventionen des Babiš- Imperiums vorliegt, bekommt das alles einen noch umfangreicheren Charakter. Selbst der oberste Staatsanwalt des Landes, Pavel Zeman, ist der Meinung, dass der Bericht aus Brüssel schwerwiegende Vorwürfe enthält und „den Verdacht einer Straftat“ begründet. Aus dem vorläufigen Bericht geht hervor, dass die EU-Kommission bis zu 17,4 Millionen Euro an Subventionen zurückfordern könnte, die an Firmen der Agrofert-Holding gezahlt worden waren. Babiš wird vorgeworfen, als Regierungschef und Unternehmer in einem Interessenskonflikt gestanden zu haben.
Wem gehört Agrofert?
Babiš bestreitet das wie immer. Vor allem unter Verweis darauf, seinen Mischkonzern Agrofert im Februar 2017 in zwei Treuhandfonds überführt zu haben. Freilich stehen diesen Fonds auch Mitglieder der Babiš-Familie vor, beispielsweise seine Ehefrau. Da liegt der Verdacht nahe, dass keine Entscheidung von Belang getroffen wird, ohne dass Babiš selbst das letzte, entscheidende Wort hat.
Zudem, so die EU-Kommission, entscheide Babiš als Premier generell über EU-Gelder. Es regte ihn auf, dass man in Brüssel zumindest mitentscheiden will, wo das Geld der Steuerzahler aus anderen EU-Mitgliedsländern landet. In einem Interview für die WELT forderte Babiš vor einiger Zeit, dass dies allein der tschechischen Seite überlassen werden sollte. Die wisse am besten, wo das Geld gebraucht werde. Ein Schelm, der Arges dabei denkt.
Es geht heute nicht mehr um die paar Milliönchen für das berühmte „Storchennest“, ein Freizeitressort, für dessen Bau extra eine kleine Firma aus dem Agrofert-Konzern ausgegliedert wurde, um Subventionen für kleine und mittlere Unternehmen zu erhalten. Sondern es geht um die vergangenen Monate und – wie schon erwähnt – um bis zu 17,4 Millionen Euro. „Falls sich zeigt, dass Subventionen unberechtigt ausgezahlt wurden, dann ist es logisch, dass sie zurückerstattet werden müssen“, meint auch der Chef der mitregierenden Sozialdemokraten, Jan Hamáček. Den Schritt, die Regierung zu verlassen, wagt der aber ebenso wenig wie die alten Kommunisten das Ende ihrer Tolerierung des Minderheitskabinetts. Bei Neuwahlen müssten beide schwere Verluste hinnehmen.
Und damit sind wir bei der zweiten Seite der Medaille: Babiš kann darauf verweisen, dass er die Wähler hinter sich hat. Auch zuletzt bei den EU-Wahlen wurde seine ANO wieder stärkste Kraft. Ein Grund auch für Präsident Miloš Zeman, der fest zu Babiš steht und die Demonstranten als „sonderbare Kreaturen“ verunglimpft.
Bekanntes Dilemma
Damit ist das Dilemma benannt, das wir heute in Tschechien haben. Auf der einen Seite machtvolle Proteste vor allem in Prag, wo Babiš bei den EU-Wahlen eine schwere Niederlage einstecken musste. Auf der anderen Seite die Gleichgültigkeit im großen Rest des Landes gegenüber den mutmaßlichen Straftatbeständen des Premiers. Besagte Gleichgültigkeit wird geschickt zusätzlich abgefedert durch die Politik der Regierung von Babiš. Die schüttet wie aus einem Füllhorn soziale Wohltaten über ihre Landeskinder aus, um sie bei Laune zu halten. Weshalb, so die darüber erfreuten Babiš-Anhänger, sollen wir uns den Ast absägen, auf dem wir sitzen? Uns geht es gut. Dank Babiš! So ist Tschechien einmal mehr politisch tief gespalten zwischen Prag und der „Provinz“.
Es empfiehlt sich angesichts dessen, mal über den tschechischen Tellerrand hinaus zu blicken. Im benachbarten Deutschland beispielsweise geht es momentan politisch drunter und drüber. Dort äußerst sich die „schlechte Laune“ auch auf Straßen und Plätzen, aber vor allem an der Wahlurne. Mit schweren Folgen für die einst als unantastbar geltenden Volksparteien. Auch Babiš denkt, er sei unantastbar. Bislang stimmt das. Aber wie das deutsche Beispiel zeigt, muss das nicht so bleiben.
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