Haben Sie schon einmal einen Mann in Pyjama und Bademantel in aller Öffentlichkeit tanzen sehen? Vermutlich nicht, denn so etwas gibt es nur in Pilsen (Plzeň). Der Hang der Pilsener zu einem etwas eigentümlichen Kleidungsstil ist Ausdruck einer Sehnsucht nach Freiheit, findet unsere Kolumnistin. Diese Sehnsucht nach Freiheit zeigte sich auch schon bei einem Pilsener Musikfestival in den Achtziger Jahren.
Der Mann im Pyjama schwenkte dort neulich abends seine Partnerin zur Musik der Gruppe „Strašlivá podívana“ („schrecklicher Anblick“) herum. Etwas ungelenk, weil ihm ständig die Schlafanzughose rutschte. Wer den „schrecklicheren Anblick“ bot, Tänzer oder Band, sei dahingestellt.
Der Mann im Schlafanzug könnte aber durchaus ein Trendsetter sein. Was Mode angeht, haben die Pilsener schon seit ewigen Zeiten ihren eigenen Stil. Sie bevorzugen eine strapazierfähige Ausstattung: T-Shirt, Hose (meist kurz), Jacke. Die vorherrschenden Farben sind einheitlich olivgrün oder gefleckt gemustert schlammbraun-olivgrün. Das klingt irgendwie nach Tarnfarben oder Military-Look, meinen Sie? Richtig: Die Pilsener haben sich ihren Mode-Stil nämlich von den amerikanischen Soldaten abgeschaut, als diese 1945 ihre Stadt befreiten.
Festival im Sozialismus
Dass der Look aber überhaupt so gut ankam, liegt an der Tradition der Pfadfinder-Bewegung, die es bereits vor dem Ersten Weltkrieg gab. Noch immer resultiert daraus die generationsübergreifende Liebe der Pilsener zum Wald, zum Sitzen und Singen am Lagerfeuer, zum Herumreisen mit Rucksack und Kochgeschirr. Ihre Anhänger unterscheiden sich lediglich ein wenig durch Kopfbedeckung oder andere Kleidungs-Accessoires: Tramp, Skaut oder Zalesák-Vagabund, Pfadfinder oder Waldläufer.
Diese Lebensart hat sehr viel mit der Sehnsucht nach Freiheit zu tun – die man während der sozialistischen Ära vor allem im Wilden Westen verortete. Von Freiheit und Abenteuer handeln deshalb die Songs der Country- und Folkszene, die in Pilsen überaus populär ist. Zwischen 1981 und 1989 brachte das Musikfestival Porta jährlich ihre besten Liedermacher und Bands in die damals graue und schmutzige Stadt. Zehntausende von Fans aus dem ganzen Land feierten hier ihre Musik und die damit verbundene Gedankenfreiheit. Das kommunistische Regime tolerierte Porta zwar, verbot aber unerwünschte Songs oder Interpreten. Seinen Höhepunkt fand das Festival 1989, als es an vier Tagen 35.000 Fans anzog.
Musik als Droge
Bis heute hat sich die Tramp- und Folkmusikszene in und um Pilsen in breiter Vielfalt erhalten. Die Bands heißen „Zopf“, „Auf alten Knien“, „Mücken“ oder „Knusperhäuschen“ – eindeutiger Hinweis auf ihren Ursprung oder ihr Selbstverständnis. Die meisten von ihnen spielen schon „schreckliche 40 Jahre“ miteinander, wie der Leadsänger von „Cop“ („Zopf“) nachgerechnet hat, eine der Bands der ersten Stunde bei Porta Pilsen. Das lange Haar hat er selbstverständlich zum Pferdeschwanz gebunden. „Musik ist unsere einzige Droge“, pflichtet ihm der weißhaarige Kollege vom Duo Komáři („Mücken“) bei. Ja, und selbstverständlich nimmt man dafür in Kauf, dass die über Jahrzehnte bei Wind und Wetter unbedeckten Knie von Rheumatismus geplagt werden.
Urgesteine der Pilsner Folk-Szene: Die Band „Cop“ 1986 und 2021: Reproduktion von Beate Franck aus der Ausstellung „Phänomen Porta“, in Pilsen gezeigt von Juli bis 2. September
Die Eltern des Pilsener Nachwuchses lassen sich davon allerdings nicht abschrecken. Ihren Kindern sollen Sehnsucht nach Freiheit und deren Sound in Fleisch und Blut übergehen. Daran orientiert sich auch die musikalische Früherziehung. Sobald die Kleinen halbwegs laufen können, werden sie direkt vor der Bühne abgestellt. Dort wackeln sie begeistert mit dem Windel-Popo und lernen nebenbei, dank ihrer noch beweglichen Knie, die Absperrgitter zu erklimmen. Als modisches Accessoire der Kinder-Garderobe haben sich heuer Ohrenschützer aus dem Schrank mit den Winterklamotten verbreitet. Die so ausstaffierten Kleinen werden zumindest nicht mit zwei Jahren schwerhörig sein. Ob die Ohrenschützer oder gar der Pyjama tatsächlich zu Modetrends werden, wird erst die kommende Freiluft-Saison zeigen. Pilsen und seine Bewohner sind jedenfalls immer für eine Überraschung gut.