Ich bin ganz erschüttert. Vor ein paar Tagen ist mir ein Artikel ins Auge gestochen, der recht furchterregende Informationen enthielt: Es gibt kaum noch junge Tschechen, die in unserem böhmisch-mährischen Kessel leben wollen.
Ganze 77 Prozent der jungen Respondierten, so fand eine Studie, erklärten sie wollen außerhalb der Tschechischen Republik leben und arbeiten. Als ich das las war mir sofort klar, dass dies einen Bürgerkrieg auslösen würde. Selbstverständlich nur im Internet.
So bin ich dann hunderte von Kommentaren in sozialen Netzwerken durchgegangen. Meist haben sich zwei Reaktionen wiederholt. Die erste lautete: „Undankbares Pack! Hier bei uns umsonst studieren und dann abhauen!“. Und die zweite: „Dann geht doch, hier braucht Euch eh keiner!“. Kurz gesagt, ein klarer, unverfälschter Schnitt zwischen Alt und Jung. Zwischen der Liebe zu den üppigen böhmischen Ländern ihren Menschen und der Sehnsucht nicht nur über den Zaun zu gucken, sondern auch über ihn zu steigen.
Als Politiker (wenn auch nur auf kommunaler Ebene) sollte ich Sie jetzt mit Dutzenden von Phrasen überschütten, warum man seine Heimat lieben sollte. Das werde ich aber nicht tun. Das macht nämlich jeder und ich selbst würde das auch nicht zum drölfzigsten Mal lesen wollen. Stattdessen versuche ich lieber zu skizzieren, warum es mir in der Tschechischen Republik (beziehungsweise in Sudetistan) so gefällt.
Eine wichtige Rolle darin, warum es die junge Generation im Galopp ins Ausland zieht, spielt der Eindruck, dass man schon alles kennt. Man hat hier in Tschechien alles gesehen, alles ausprobiert und sich das entsprechende T-Shirt dazu gekauft. Die Studenten, die ihren Stab über dieses Land brechen, wollen gar keine weiteren Erkenntnisse hier sammeln. Sie haben resigniert, weil sie glauben, dass hier nichts Gutes mehr auf sie wartet.
Und das ist auch recht verständlich. Man kann sich nicht wundern, wenn jemand der momentan in diesen trüben tschechischen Gewässern lebt, der das Gefühl hat, hier nicht mehr atmen zu können und immer wieder neue Enttäuschungen erfährt, nicht länger geduldig sein und sich eine rosarote Brille aufsetzen will, sondern eine Veränderung anstrebt. Er will weg, gen Westen, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Ich bin 20 Jahre alt und studiere an der Karlsuniversität. Ich bin der ideale Kandidat dafür, sich seine Buchteln und sein iPhone in ein Säckchen zu packen und ins Ausland zu gehen. Ich werde es aber nicht machen. Selbst begründe ich mir das mit einer mir eigenen und naiven Logik. Ich weiß nämlich, dass ich nichts weiß.
Ich lebe in einer Höhle, die viele als die „Tschechische Republik“ betrachten, aber was ich hier sehe sind nur die Schatten des wahren Tschechiens. Ok, genug der schlechten Anspielungen auf antike Philosophen. Ich will damit nur sagen, dass wir oft reden, als ob wir die ganze Republik kennen, von Asch bis Jablunkau. Dabei ist das als ob ein Blinder von Farben erzählt.
Wenn die junge Generation hier in Tschechien einen Mangel an Optimismus, Gutmütigkeit und Lebenslust beklagt, dann sollte sie sich mal in Mähren, in Südböhmen oder im Westen des Landes umschauen, oder einfach dort, wo sie nicht zuhause ist. Aber nicht nur schauen, sie sollte eintauchen in das Leben dieser Regionen und die Menschen dort kennenlernen.
Klar, auch ich bin oft von meiner Umgebung frustriert. Aber das behebe ich nicht dadurch, dass ich von fernen Gefi lden träume, sondern indem ich Neues kennenlerne. Ich will sehen und wissen, wie man anderswo in Tschechien lebt. Ich betreibe eine Art Erkenntnistourismus. Wenn ich weiß wie Menschen anderswo leben, werde ich den Kontext dessen, was meine Altersgenossen an der tschechischen Mentalität so stört verstehen – Konservativismus, Misstrauen gegenüber fremden Einflüssen, Bitterkeit, Unfreundlichkeit.
So habe ich jetzt schon ungefähr ein halbes Jahr die verschiedensten Teile dieses Landes bereist. Verschiedene Ecken Sudetistans, von denen ich nicht einmal wusste, dass sie existieren, Gegenden im Osten, im Süden… Und ich kann voller Optimismus sagen, dass es mit der tschechischen Mentalität nicht gar so schlimm ist. Noch leben hier genug Menschen, die einen westlichen Lebensstil verfolgen und frei und freiheitlich denken. Wenn Sie das nächste Mal mit einem jungen Menschen hier sprechen, der ans Fortziehen denkt, geben Sie ihm einen ungewollten Rat: „Schau nicht voller Sehnsucht ins Ausland, sondern werfe Deinen Blick auf Tschechien, wenigstens für eine kurze Weile“. Vielleicht tragen Sie so ja dazu bei, dass er seine Meinung ändert.
Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte. Ich muss los zu einem Folkloreabend, auf dem ich mährische Volksweisen und -tänze erforschen werde. Damit ich alle Farben dieses wunderschönen Landes kennenlerne.
Dominik Feris Kolumne „Im wilden Sudetistan“ finden Sie jeden Monat exklusiv im LandesEcho und auf landesecho.cz . Dieses Feuilleton erschien im LandesEcho 8/2016. Der Autor (20) ist nordböhmischer Patriot und Stadtrat in Teplice (Teplitz-Schönau). Er studiert Jura an der Prager Karlsuniversität.
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