Ihr Name ist eine Verheißung: Nádherná – die Herrliche. Ihr Leben verlief indes nicht in Herrlichkeit. Sidonie Nádherná, Muse und Mäzenin, wagte gegen alle Konventionen ihrer Zeit ein selbstbestimmtes Liebesleben.
Lange wanderte ich heute durch Schloss und Park; beide sind so verlassen, Tore und Türen stehen überall weit offen. … Im Stiegenhaus klaubte ich die herumliegenden abgebrochenen Finger und Zehen der Holzfiguren auf und brachte sie nach Haus, mit blutendem Herzen.
(Sidonie Nádherná von Borutin, Brief vom 3. Juni 1945)
So also endete es: Tragisch, traurig, vom Tod überschattet. Wie es anfing? Mit einem Aufeinanderprallen von Liebe und Literatur. In einem unberührten Paradies, zugleich Ort der Selbstverwirklichung. Mit drei Akteuren: Sidonie Nádherná von Borutin (1885 – 1950), Karl Kraus (1874 – 1936) und Rainer Maria Rilke (1875 – 1926). Die klassische Konstellation, eine schöne Frau zwischen zwei Männern, in diesem Fall zudem literarische Konkurrenten.
Beginnen wir mit der Frau: Sidonie lebt Anfang des 20. Jahrhunderts mit ihrem älteren Bruder Johannes und ihrem Zwillings-Bruder Karl auf Schloss Janowitz in Mittelböhmen. Eine Familie von neuem Adel, die letzten Privateigentümer dieses romantisch- neugotischen Bauwerks. Sidonies Bestimmung: Heiratskandidatin. Das heißt vor allem warten. Warten, bis sich ein geeigneter Bewerber einfindet. Als einzige Möglichkeit, ihre eigene Kreativität auszuleben, bleibt ihr der Garten. Sidonie wird zur Parkherrin von Janowitz und zur großzügigen Gastgeberin für zahlreiche angesagte Leute ihrer Zeit.
Letztes Porträt von Sidonie Nádherná, gemalt von Max Švabinský, 1908
Ungefähr um 1913 lernt sie in Paris im Atelier von Auguste Rodin Rilke kennen, der dort als Sekretär beschäftigt ist. Der Romantiker Rilke hat eine Vorliebe für geistvolle, schöne Frauen, der Pragmatiker Rilke bevorzugt darüber hinaus solche, die in luxuriösen Schlössern leben. In Sidonie findet er eine derartige „Muse“. Er umwirbt sie mit dem Ziel, auf ihrem Schloss eine Zuflucht auf Dauer zu finden, ohne wie sonst bei seinen Gastgebern den „Alleinunterhalter“ geben zu müssen.
Ein Jahr später kommt ihm der bissige Satiriker und Zyniker Karl Kraus in die Quere. Ihm begegnet Sidonie nach dem Selbstmord ihres Bruders Johannes in Wien – und um beide ist’s geschehen. Eine amour fou folgt – eine mesaillance auch, denn Kraus als Jude kommt als Ehemann nicht in Frage. So muss das Verhältnis ein heimliches bleiben, beargwöhnt und hintertrieben von Rilke, der die Konkurrenz wittert.
Im August 1914 schreibt Kraus vehement gegen den aufziehenden Weltkrieg. Auf einem Steintisch im Park von Janowitz entsteht sein wichtigstes Werk „Die letzten Tage der Menschheit“. Rilke dagegen positioniert sich elegisch für den Krieg und wird prompt zum Landsturm eingezogen. Einem Netzwerk seiner einflussreichen „Musen“ gelingt es, ihn im Kriegspropaganda-Ministerium unterzubringen, dem Pressequartier, wo auch andere Autoren der Zeit Presseaussendungen verfassen. Rilke aber schreibt nichts, er liniert stattdessen Blätter bis zum Wahnsinnigwerden, so dass er abermals seine „Musen“ anfleht: „Rettet mich, lieber gehe ich in den Schützengraben“.
Der Park von Schloss Janowitz, Foto: Beate Franck
Sidonie hat derweil andere Sorgen, 1915 fliegt ihr Verhältnis mit Karl Kraus auf. Sie schmiedet ein Eheprojekt mit einem italienischen homosexuellen Grafen-Freund namens Giucardi. Mit dem Eintritt Italiens in den Ersten Weltkrieg 1916 zerschlagen sich diese Pläne. Die Verbindung zwischen Sidonie und Kraus wird jedoch bis zu dessen unverhofften Tod 1936 halten. (Rilke ist bereits zehn Jahre vorher gestorben). Für die trauernde und einsame Sidonie wird Janowitz zur Zuflucht, aus der sie die Realität aussperrt.
Die Realität dringt in ihr abgeschirmtes Paradies umso brutaler ein: in SS-Uniform. Zwischen 1943 und 1945 legt die Wehrmacht um Janowitz und Beneschau einen Truppenübungsplatz von 40.000 Hektar an. 50.000 Menschen aus rund 100 Dörfern und Städtchen werden dafür umgesiedelt. Häuser und Gebäude werden zum Ziel von Schießübungen für den Russland-Feldzug. Im Frühjahr 1944 muss auch Sidonie ausziehen. Im Schloss wird eine SS-Kommandantur eingerichtet. Zerschlagenes Interieur, ein verwüsteter Park, die Güter zwangsverwaltet, unklare Eigentumsverhältnisse: Sidonie steht nach Kriegsende vor den Trümmern ihrer Existenz. 1949 geht sie ins Exil nach England und Irland, stirbt jedoch bereits ein Jahr später. Ihre sterblichen Überreste werden am 25. Mai 1999 wieder nach Janowitz auf den Familienfriedhof an der Schlossmauer überführt.
Schloss Janowitz wird unter den Kommunisten zunächst als Textillager genutzt, später als Kreis-Archiv. Bereits am Ende der 1950er Jahre wird hier eine Außenstelle des Nationalmuseums eingerichtet, was sicher zum Erhalt und der Rettung von Janowitz beiträgt. Sidonie zum Trost sei gesagt, dass heute das Schloss und vor allem ihr Park wieder „jene Harmonie ausstrahlen, die es einst besaß“. Melancholie und Traurigkeit sind ebenfalls darunter, als Beigaben der Vergangenheit.
Schloss Janowitz (heute Vrchotovy Janovice) liegt im Bezirk Benešov in der Mittelböhmischen Region. Führungen durch die Dauerausstellung des Nationalmuseums werden von Studenten der örtlichen Mittelschulen geleitet. Die Ausstellung zeigt Mobiliar, Textilien und Lebensgewohnheiten in verschiedenen Epochen. Ein Raum widmet sich den vier Schriftstellern Karl Havliček Borovský, Jan Neruda, Karel Jaromir Erben und Božena Němcová. Der Familie Nádherný sind zwei Extra-Räume gewidmet, einer davon die Bibliothek. Ausgelegt sind Bände mit Original-Fotos der Familienmitglieder. An einer Wand hängt das letzte Porträt Sidonies, das 50 Jahre lang als verschollen galt.