Božena Němcová ist ein Phänomen. Mutter von vier Kindern, Akteurin der tschechischen nationalen Wiedergeburt, Romantikerin, vor allem Autorin und Märchensammlerin, eine Gebrüder Grimm Böhmens. Bekannt wurde sie durch ihr Hauptwerk Babička (Die Großmutter). Ihr Einfluss reichte weit ins 20. Jahrhundert, ihr Mythos allerdings auch.
Am 4. Februar vor 200 Jahren wurde sie geboren. Obwohl, so ganz sicher ist das Geburtsdatum nicht. Offiziell kam die bekannteste tschechische Schriftellerin des 19. Jahrhuderts 1820 in Wien als Barbora Pankl in der Familie des Herrenkutschers Johann Pankl und der tschechischen Bediensteten Terezie Novotná auf die Welt. Es gibt auch eine andere Version. Demnach war sie adliger Abstammung, allerdings aus einer illegitimen Verbindung, am wahrscheinlichsten von Dorothea von Sagan und Graf Karl Glam-Martinic. Bewiesen ist jedoch nichts.
Ihre Stellung innerhalb der tschechischen Kulturgeschichte ist dagegen unumstritten. Sie hat sich ins Bewusstsein der tschechischen Leser als Erzählerin von Märchen und Kurzprosa aus der Provinz eingeprägt. Unsterblich bleibt sie vor allem durch ihr Werk „Die Großmutter“ („Babička), in dem sie ein idealisiertes Bild ihrer Kindheit in der östböhmischen Stadt Böhmisch Skalitz (Česká Skalice) und dem benachbarten Ratiborschitz (Ratibořice) schuf, wo sich noch heute das malerische „Großmutterthal“ („Babiččino údolí“) mit Alter Bleiche („Staré Bělidlo“) befinden. In der Alten Bleiche arbeitete ihre Mutter.
Das Buch „Babička“ erreichte allein in Tschechien rund 350 Auflagen und wurde mittlerweile in fast drei Dutzend Sprachen übersetzt. Es ist Klassiker der tschechischen Literatur, den die meisten Tschechen seit ihrer frühen Kindheit kennen. Sie schreib es, wie die meisten Erzählungen, zwischen 1854-1856, um sich nach dem Tod ihres ältesten Sohnes Hynek zu trösten. Darüber hinaus wurde sie von Existenzsorgen geplagt. Ständige Polizeiaufsicht machte ihr und ihrem Mann, dem tschechischen Patriot Josef Němec, das Leben schwer. Eben deshalb kehrte sie zumindest in Gedanken zu Menschen und Orten ihrer Kindheit zurück.
Daher ist es nicht verwunderlich, dass gerade das Božena-Němcová-Museum (Muzeum Boženy Němcové) in Böhmisch Skalitz 2020 als „Jahr der Božena Němcová“ feiert. Das älteste tschechische Literaturmuseum, dem Němcovás Tochter Dora (gestorben vor 100 Jahren am 6. 2.1920) den Nachlass ihrer berühmten Mutter anvertraute, hat ein vielfältiges Kulturprogramm vorbereitet. Das komplette Program findet man auf www.bozenanemcova.cz.
„Sie war eine Kämpferin, Träumerin, Idealistin“
Die Historikerin und Buchautorin Michaela Koštálová über ihr neuestes Buch „Rodokmen a vztahy Boženy Němcové“ („Stammbaum und Beziehungen Božena Němcovás“).
LE Was war Ihr Anlass zur Beschäftigung mit Božena Němcová?
Es hängt mit meinem Interesse für bedeutende Frauen unserer Geschichte zusammen. Bei Němcová interessierte mich nicht so sehr ihr Werk, sondern ihre Persönlichkeit. Als ich erfuhr, dass sie ein schweres Schicksal hatte, wollte ich mich damit beschäftigen. Mein Ziel war jedoch nicht ein faktografsch überfülltes Buch, sondern eins, das den Leser zum Nachdenken bringt und Emotionen vermittelt.
LE Was bewundern Sie an Božena Němcová?
Dass sie eine Kämpferin war. Sie konnte sich für ihre Träume bis ans Ende ihrer Kräfte schlagen, obschon sie unerfüllbar waren. Sie war gleichzeitig eine zarte Frau, große Träumerin und Idealistin. Und trotzdem (oder gerade deshalb) konnte sie sprichwörtlich mit dem Kopf gegen die Wand laufen.
LE Zu was für einem Bild von Němcová sind Sie gekommen?
Dem Bild einer Frau, die romantisch lieben und genauso geliebt werden wollte. Sie besaß eine ungeheuere Phantasie, stieß aber an eine harte Realität. Sie wurde zu früh aus Geldmangel verheiratet, und weil ihre Ehe nicht glücklich war, flüchtete sie sich in eine Märchenwelt, über die sie schrieb. Sie wollte eine Romanze erleben. Nach vier Schwangerschaften suchte sie keine physische, sondern eine romantische Liebe. Deshalb verliebte sie sich immer aufs Neue.
LE Inwieweit hat sich ihr Verhältnis zu Männern und Frauen unterschieden?
Ich denke, dass sie zu allen Menschen aufrecht war, und dass sie große Persönlichkeiten bewunderte, ganz egal, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte. Sie hatte keine Komplexe. In den Frauen sah sie Freundinnen, keine Rivalinnen. Männer waren für sie nicht potenzielle Partner oder Liebhaber, sondern vor allem Menschen, die z. B. begabte Entdecker waren.
LE Wissenschaftler forschen bis heute vergeblich nach ihrer vermeintlichen Adelsabstammung. Was halten Sie davon?
Dem Gefühl nach kann ich mich diesem Gedanken schon anschließen, aber wer weiß? Historiker gehen von verschiedenen Chroniken und Dokumenten aus, doch wo ist geschrieben, dass auch die nicht so gestaltet wurden, damit es jemandem passt? Wir wissen es nicht. Daher wird diese Frage für die Forscher immer sehr anziehend sein.