Eine Aussage der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel zur Vertreibung der Deutschen sorgt in Tschechien für Unmut. Beim genauen Hinsehen zeigt sich aber: Die Aussagen Merkels wurden aus dem Zusammenhang gerissen. Und die tschechische Zivilgesellschaft geht mit der Vergangenheit viel reflektierter um als die Männer an der Staats- und Regierungsspitze.
In der deutsch-tschechischen Vergangenheitsbewältigung hat sich in den letzten Jahren einiges bewegt. Mit dem damaligen Kulturminister Daniel Herman nahm 2016 erstmals ein tschechischer Regierungsvertreter am Sudetendeutschen Tag teil. Er sprach die nach dem Zweiten Weltkrieg vertriebenen Deutschen als „liebe Landsleute“ an. In Brünn veranstaltet das Festival Meeting Brno alljährlich einen „Versöhnungsmarsch“ in Andenken an den gewaltsamen Brünner Todesmarsch von 1945. Die jahrzehntelang für ihren konfrontativen Kurs bekannte Sudetendeutsche Landsmannschaft strich vor drei Jahren das Ziel der „Wiedergewinnung der Heimat“ aus ihrer Programmatik. Und vor wenigen Wochen feierte der deutsch-tschechische Zukunftsfonds sein 20-jähriges Bestehen mit einem „Nachbarschaftsfest“ auf der Mánes-Brücke in Prag. Die deutsche Co-Vorsitzende des Fonds, Petra Ernstberger, schwärmte im Interview mit Radio Prag von der entspannten Atmosphäre, bei der die Leute sich hinsetzen und „chillen“ konnten.
Die Nachbarschaft von Tschechen und Deutschen als ein Fest der größtmöglichen Harmonie? Dieses Bild erhielt in den letzten Tagen einige Kratzer. Anlass war eine Rede der deutschen Bundeskanzlerin am Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung. Dabei sagte sie, dass es für die Zwangsaussiedlung der Deutschen „weder eine moralische noch eine politische Rechtfertigung gab.“ Dieser eine Halbsatz erregte in Tschechien großes Aufsehen: Staatspräsident Miloš Zeman äußerte seine „tiefste Missbilligung“ und auch Premierminister Andrej Babiš nannte die Aussagen „absolut inakzeptabel“. Seiner Meinung nach instrumentalisiere Merkel das Thema für innenpolitische Zwecke. Der rechtskonservative Abgeordnete Václav Klaus junior forderte im Interview mit dem Wochenmagazin Reflex sogar, dass der deutsche Botschafter für die „hasserfüllten Äußerungen gegen unser Land“ Rede und Antwort stehen soll. Das von Teilen der tschechischen Medien aufgegriffene Deutungsmuster ist: Merkel präsentiert die Deutschen einseitig als Opfer und stellt die Beneš-Dekrete als Rechtsgrundlage der kollektiven Zwangsaussiedlung infrage.
Die Ursachen nicht ausgeklammert
Vor einem vorschnellen Urteil lohnt es sich zu fragen: Was hat die deutsche Bundeskanzlerin wirklich gesagt? Ihre Rede an dem Gedenktag in Berlin kann man auf den Seiten des Bundeskanzleramts nachlesen (hier). Dabei fällt auf, dass sie mit keinem Wort über Tschechien und die Sudetendeutschen sprach. Merkel bezog sich auf alle nach dem Zweiten Weltkrieg aus Mittel- und Osteuropa vertriebenen Deutschen. Entscheidend ist zudem der Satz vor der vielzitierten Aussage: „Vertreibung und Flucht der Deutschen waren eine unmittelbare Folge des von Deutschland begonnenen Zweiten Weltkriegs und der unsäglichen Verbrechen während der nationalsozialistischen Diktatur.“ Damit erkennt Merkel die deutsche Verantwortung klar an. Mit der Benennung der Ursachen folgt sie zudem der aktuellen Geschichtsforschung in Deutschland und Tschechien. Sie grenzt sich von einem gerade in der Sudetendeutschen Landsmannschaft lange dominierenden Erzählung ab, wonach die Vertreibung der Deutschen bereits in der Tschechoslowakei der Zwischenkriegszeit geplant wurde.
Sicherlich waren Merkels Formulierungen nicht perfekt. Sie hätte auch die vorangegangenen Vertreibungen der nicht-deutschen Bevölkerung ansprechen können. Und vielleicht wäre die Angriffsfläche kleiner gewesen, wenn sie die Zwangsaussiedlung der Deutschen vor allem aus moralischer Sicht verurteilt hätte. Die Rede von der fehlenden politischen Rechtfertigung ist schwammig und kann leicht fehlgedeutet werden. Die moralische Perspektive dagegen ist ein Merkmal aufgeschlossener Erinnerungskultur in Tschechien und Deutschland: Das heißt, man findet ein klares und selbstkritisches Wort zur Vergangenheit. Dies geschieht aber in dem Bewusstsein, dass Geschichte nicht rückgängig gemacht werden kann. Forderungen wie die Aufhebung der Beneš-Dekrete oder Reparationszahlungen haben in dieser Konzeption keinen Platz. Im Großen und Ganzen fand die Bundeskanzlerin in ihrer Rede aber eine angemessene Mischung aus historischer Faktentreue und Empathie für die deutschen Heimatvertriebenen, vor denen sie sprach. Weite Teile der Ansprache behandelten das Thema Flucht und Migration zudem im globalem Kontext: Merkel zeigte sich bewegt von einzelnen Schicksalen, sagte aber auch, dass Migration gesteuert werden müsste. Ein genaues Studium der Rede könnte auch ein in Tschechien verbreitetes Bild widerlegen, wonach Merkel für die unbegrenzte „Willkommenskultur“ steht.
Besonnene Stimmen aus Tschechien
Nicht vergessen werden darf, dass in Tschechien viele auch anders regierten als die Vertreter an der Staats- und Regierungsspitze. Das Außenministerium ließ verlauten, dass Angela Merkel nicht die Aussagen der Deutsch-Tschechischen Erklärung von 1997 anzweifelte. Ähnlich äußerte sich auch der Piraten-Abgeordnete Mikuláš Peksa, der sagte, dass die Deklaration unterschiedliche Ansichten über die Vergangenheit zuließe. Ein Kommentator des öffentlich-rechtlichen Rundfunks sagte (deutsches Zitat bei eurotopics.net), dass die Reaktionen in Tschechien vor allem Geschichtsunkenntnis offenbarten. Und Erik Tabery, Chefredakteur des Wochenmagazins Respekt, schreibt, dass die schärfsten tschechischen Kritiker der Rede nicht selten der AfD applaudierten, die wie keine andere Partei einen deutschen Geschichtsrevisionismus vertritt. Ironisierend spricht er von der „Partei gegen Flüchtlinge und Sudetendeutsche“, die erstaunlicherweise noch nicht bei den Wahlen angetreten sei.
Ein besonnener und reflektierter Umgang mit der eigenen Geschichte findet sich auch in weiteren Teilen der tschechischen Gesellschaft: Das Festival Meeting Brno wird von Kulturschaffenden, Lokalpolitikern und kirchlichen Kreisen getragen und genießt die ausdrückliche Unterstützung des Brünner Oberbürgermeisters Petr Vokřál. Gleichzeitig etablierte sich auch in zahlreichen kleinen Gemeinden eine Gedenkkultur über Gewaltverbrechen, die an Deutschen verübt wurden. Bemerkenswert dabei ist, dass die lokalen Aktivisten und Politiker oft keinen besonderen Bezug zu Deutschland und den Deutschen haben. Die tschechisch-deutsche Verständigung ist damit nicht nur ein Elitenprojekt. Für einen vorurteilsfreien Umgang mit der deutschen Geschichte in Tschechien setzt sich auch die 1998 von Prager Studenten gegründete Organisation Antikomplex ein. Ein Wandel (Mittelbayerische Zeitung) ist durchaus spürbar: Im Jahre 2003 hielten noch 60 Prozent der Tschechen die Vertreibung der Deutschen für gerecht. Fast ein Jahrzehnt später teilten nur noch 42 Prozent der Befragten diese Auffassung.
Nicht den Mahnfinger erheben
Gewiss wird diese positive Entwicklung durch die aktuelle Kontroverse und deutsch-tschechische Meinungsverschiedenheiten in der Flüchtlingspolitik auf die Probe gestellt. Die deutsche Seite wäre aber gut beraten, nicht nur die verbalen Rundumschläge einiger tschechischer Politiker wahrzunehmen. Vielmehr sollte bekannt werden, dass in Tschechien weite Kreise die Dinge auch anders und differenzierter sehen. Absolut fehl am Platz ist aber auf jeden Fall der deutsche Mahnfinger. In diesem Zusammenhang erscheinen die jüngsten Aussagen von Bernd Posselt, dem Vorsitzenden der Sudetendeutschen Landsmannschaft, als schlechtes Vorbild. Als Reaktion auf die Merkel-Kritik sagte (Česká televize) er, dass Teile des politischen Establishments Tschechiens auf die kommunistische Vergangenheit zusteuerten. Es ist nicht so, dass Posselt mit dieser Feststellung völlig unrecht hätte. Aber es ist nicht klug, dies als Vorsitzender eines in Tschechien immer noch als Feindbild geltenden Verbandes zu äußern. Nicht zuletzt zeigt die gegenwärtige Debatte auch, dass die deutsch-tschechischen Beziehungen nicht nur als Gegenwarts- und Zukunftsprojekt gedacht werden können. Vielmehr braucht es auch weiterhin Kompetenz und ein hohes Interesse für die historischen Fragen. Nur so kann es gelingen, in einer von Emotion und Halbwissen geprägten Diskussion kühlen Kopf zu bewahren.
Dieser Kommentar erschien zuerst auf dem pragerblog von Niklas Zimmermann.