Vor 100 Jahren entstand der erste tschechoslowakische Staat. Heute gibt es nur noch die Slowakische und die Tschechische Republik. Dazwischen liegen tiefe Brüche. Was ist von der ersten Tschechoslowakei heute noch übrig? Eine Spurensuche zwischen Bratislava und Prag.
„Tschechien, ich hab Dich gern,
ich möchte ein liebevolles Gedicht Dir schreiben.
Ich denke, Du kannst ein liebevolles Gedicht gebrauchen (…)“
Kamil Bouška, Mitglied der slowakischen Dichter-Gruppe Fantasía, eröffnet die aktuelle Ausgabe der slowakischen Zeitschrift für zeitgenössische Kunst und Kultur „Vlna“ (Welle). Deren Nummer 75 trägt im 20. Erscheinungsjahr den Titel: „Česko_Slovensko“ (Tschechien_Slowakei). Ohne Vorwarnung wechseln die Texte die Sprache, springen zwischen Slowakisch und Tschechisch. In zwei balladenhaften Gedichten gesteht Bouška seine Liebe – zu seinen beiden Heimatländern.
„Slowakei, ich renne von Dir fort und Dir nach (…)
Geboren wurde ich in der Tschechoslowakei als tschechoslowakischer Bürger.
Ich bin Dein Sänger. Ich liebe Dich.
Ich heirate Dich und werde Bigamist.
Slowakei, nimm mich und wir werden zum Paradies auf Erden (…)“
Der Pragmatismus der Kleinen
Vor 100 Jahren entstand der erste Staat der Tschechen und Slowaken. Gegen Ende des Ersten Weltkriegs zerbrach die Österreichisch-Ungarische Monarchie. Aus zwei ihrer Bausteinchen setzte sich ein neues Gebilde zusammen, das sich anschickte, sich ohne Wien und Budapest unter anderem gegen die Deutschen in der Nachbarschaft zu behaupten.
„Für mich ist das der grundlegende Eckstein der jüngeren slowakischen Geschichte. Er hat sie gänzlich neu ausgerichtet, den Bildungsprozess eines eigenen Landes des slowakischen Volkes angetrieben“, sagt der Historiker Matej Hanula vom Historischen Institut der Slowakischen Akademie der Wissenschaften über das Jahr 1918. Hanula beschäftigt sich seit Jahren mit der Geschichte seines Landes in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. „Erstmals entstand hier in der Slowakei überhaupt ein administratives Ganzes, das war ein Durchbruch.“ In wenigen Jahren erhielt die Slowakei auch eine neue eigene kulturelle Infrastruktur: In Ungarn gab es zwar schon slowakische Grundschulen, aber an den Mittelschulen wurde kein Slowakisch mehr gelehrt, ebenso wenig an den Universitäten. In der Republik dann aber wurde schon in den ersten zwei Jahren ein neues Schulsystem aufgebaut, eine eigene nationale Universität sowie das Nationaltheater und das nationale Kulturinstitut „Matica slovenská“ (wörtlich „Slowakische Mutter“) gegründet.
Die Teilung der politischen Lager in der Slowakei verlief damals nicht zwischen Links und Rechts oder Konservativ und Liberal, sondern zwischen den Zentralisten, die sich hinter die neue Republik mit Sitz in Prag stellten, und den Autonomisten. Letztere waren ein eher konservatives, klerikal-katholisch geprägtes politisches Lager, das befürchtete, dass die neue Demokratie in Tschechien die Religion und die traditionellen Bräuche in der Slowakei unterdrücken könnte.
Letztlich betrachteten die Slowaken die Republikgründung aber vor allem pragmatisch: „Sie haben diesen tschechoslowakischen Staat aufgebaut und mussten die Idee auch eine Weile aufrechterhalten. Sie waren dazu bereit, weil sie die Slowakei endgültig aus dem ungarischen Staat herauslösen wollten. So wurde auch oft im Streitgespräch mit Autonomisten argumentiert“, erklärt Hanula.
Auch der Begriff des „tschechoslowakischen Volkes“ sei eigentlich nur aus praktischen Erwägungen entstanden: Hätte man die Republik als neuen Staat für das tschechische und das slowakische Volk begründet, so der Historiker, hätte das die Staatsgründung nicht genügend gerechtfertigt. Denn an zweiter Stelle nach den Tschechen standen nach Zahl und Ansehen die Deutschen, die Slowaken waren damals nur die drittgrößte Volksgruppe. So erfand man also das „tschechoslowakische Volk“, das auch andere Volksgruppen mit einschloss. „Dieser Pragmatismus funktionierte, er kam beiden Seiten entgegen.“
Die Reste der Republik
Von Wien erreicht man Bratislava heute in einer guten Stunde, zum Beispiel mit dem Regionalzug. Im Februar 1914 – damals noch in Österreich-Ungarn – wurde hier die damals längste Straßenbahnlinie Europas eröffnet. Die Pressburger Bahn war knapp 70 Kilometer lang. Heute verkehrt an ihrer Stelle der Kunst-Themen-Zug „Tram“, in dem regelmäßig Ausstellungen und Performances stattfinden. An den Fensterbrettern hängen kleine Daumenkinos. Auf den Sitzen liegen Zeitungen: Sonderausgaben der Tageszeitung Denník N zum aktuellen Achter-Jahr, jeweils auf Deutsch und Slowakisch. „Die erste Tschechoslowakische Republik erblickte als ‚Glückskind des Vertrags von Versailles‘ das Licht der Welt“, heißt es da.
In Tschechien ist der 28. Oktober als Gründungstag der Tschechoslowakei heute Staatsfeiertag. In der Slowakei nicht. Und selbst der 30. Oktober, der Tag der Deklaration von Martin, in der die Slowakei sich 1918 formell der Gründung der Tschechoslowakischen Republik anschloss, ist nur im Jubiläumsjahr 2018 einmalig als arbeitsfreier Gedenktag festgelegt. „In Martin nahmen wir uns das Recht heraus, uns von Ungarn loszusagen“, betont Hanula. Der einmalige Feiertag ist natürlich nur ein Kompromiss, aber „für die Öffentlichkeit sicher ausreichend“.
Schwindende Nähe
Kaffee bestellen, Ticket kaufen oder Interview führen: Stellt man in der Slowakei heute eine Frage auf Tschechisch, bekommt man anstandslos Antwort auf Slowakisch. Zeitungen, Bücher, Fernsehprogramme, all das gab es hier jahrzehntelang vor allem auf Tschechisch. Die Sprachen unterscheiden sich mehr als Dialekte, aber sind doch kompatibel. „Die Tschechen waren immer schon das geachtetere Volk, sie hatten ja auch die größere Hauptstadt“, lacht der Maler Michal Černušák. Ob Slowakisch, Tschechisch, Englisch, Russisch oder Deutsch – in der kleinen Szenekneipe in der Bratislavaer Altstadt ist man flexibel mit den Sprachen. „In der Schule lernten wir auf Slowakisch, vieles lasen wir auf Tschechisch. Nichts Besonderes.“
Černušák ist einer von zehn slowakischen Gegenwartskünstlern, die die Galerie Arcimboldo in der Prager Kleinseite pünktlich zum tschechoslowakischen Erinnerungsjahr ausstellte. Die Schau mit dem pikanten Titel „Slowakischer Nationalaufstand“ (Slovenské národní povstání) eröffnete am 29. August zum 84. Jahrestag des gleichnamigen historischen Ereignisses, als sich im Sommer 1944 der slowakische Widerstand gegen die Okkupation der Slowakei durch die deutsche Wehrmacht und einheimische Kollaborateure erhob. Laut Kurator Radek Wohlmuth sind es jene zehn slowakischen Künstler, die nicht nur in der eigenen Binnenszene, sondern auch auf internationaler Kunstbühne ihre Spuren hinterlassen. Daher auch der Titel: „Mit leichter Übertreibung nennen wir das einen kleinen Nationalaufstand.“
Aber: „Die tschechische Kultur war schon immer ein starker Teil der slowakischen“, sagt der Historiker Hanula. Das widerspiegele eben auch bis heute der Umgang mit der Sprache bzw. den Sprachen.
Der 36-jährige Kunst-Dozent Černušák verbindet mit „Tschechoslowakei“ aber – wie sicher die meisten Menschen – eher die Zeit seiner Kindheit, die letzten Jahre des Kommunismus und die Folgen der Samtenen Revolution. „Ich weiß nicht, was ich über die Erste Republik denken soll, ich habe diese Zeit ja nicht erlebt“, sagt er. Die slowakische Kunst unterscheidet sich für ihn heute kaum von der Tschechischen. „Nur seit den 90ern-2000ern ist sie lebendiger und benutzt expressivere Farben. Wenigstens ist das so mein Gefühl.“
Während es zwischen den älteren Künstlern, ob in Tschechien oder der Slowakei, noch bis in die 80er Jahre hinein sehr enge Verbindungen gegeben hat, zerfielen diese in den letzten drei Jahrzehnten langsam. „Seitdem entstehen gar keine Künstlergruppen mehr, jeder ist auf sich fokussiert, die eigene Individualität steht nun im Vordergrund“, sagt Černušák. Eines seiner Hauptthemen in der Malerei ist die Vereinsamung des Menschen in der Masse. Ein Thema, das ihm auch in seiner beschaulichen slowakischen Heimat auffällt. Wenigstens für die Künstler galt seiner Meinung nach: „Die Einschränkungen während des Kommunismus brachten auch einen größeren Zusammenhalt untereinander.“
Lehren für heute?
An die Staatsgründung 1918 wird gerade fast überall in Tschechien und der Slowakei gedacht. Eine große bilaterale Tschechisch-Slowakische Ausstellung war bereits in der Bratislavaer Burg zu Gast und eröffnet Ende Oktober das frisch restaurierte Tschechische Nationalmuseum auf dem Prager Wenzelsplatz. Vortragsreihen und Ausstellungen von Kulturinstitutionen der einzelnen Länder beschäftigen sich mit den Ereignissen ab 1918 auch in Österreich, Polen und Deutschland. Warum inmitten der vielen runden Jubiläen dieses Achter-Jahres gerade das Gedenken an die Gründung der Tschechoslowakei wichtig ist? „Manchmal scheint es, als ob wir eigentlich diejenigen Momente viel lieber hätten, in denen wir etwas verloren, als die, in denen wir etwas aufbauten“, schreibt der tschechische Publizist und „Respekt“-Chefredakteur Erik Tabery in seinem Beitrag für eine Sonderausgabe zu den Jahren 1918 bis 1938.
Darauf verweist auch Historiker Hanula: „Trotz politischer Instabilität, Unerfahrenheit und der berüchtigten Weltwirtschaftskrise wurde damals investiert, zum Beispiel in den Ausbau der Eisenbahn. In ein paar Jahren ist das gebaut worden! Jetzt baut man schon 20 Jahre an der Autobahn durch die Slowakei.“
Die tschechische Perspektive auf 1918 nimmt derweil eher die Rückkehr zu einer früheren Staatlichkeit in den Fokus: „Das tschechische Volk bestand schon Ende des 19. Jahrhunderts, auch innerhalb der Monarchie, als die Slowakei gerade erst ihre ersten Institutionen einrichtete“, meint Hanula. „Tschechische Historiker verstanden die Tschechoslowakei oft eher als einen neuen tschechischen Staat mit etwas anderen Grenzen. Der größte Unterschied ist die Perspektive: Vor allem in den Anfangsjahren spielte die Slowakei kaum eine Rolle im Programm des neuen Staates.“
In einem sind sich beide Seiten aber unbestritten einig: bei der Bewertung des „Vaters der Republik“, des ersten tschechoslowakischen Präsidenten Tomáš Garrigue Masaryk. Ein Weltbürger, ein Demokrat, ein Visionär, der verbinden und überzeugen und realisieren konnte. Ob in Prag oder Bratislava: Für die heutige Politikbühne würde man sich eine solche Person wohl in beiden Hauptstädten wieder wünschen.
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