Eine junge Deutsche erkundet die Kindheit ihres Opas in Mähren.
Von hier aus blickte mein Opa auf Olmütz, heute Olomouc, als es in Flammen aufging. Mit dem Sieg der Russen spielte sich in diesem Ort das schlimmste Kapitel seines Lebens ab. Zusammen mit ihm und meiner Oma bin ich im Juni 2018 – über 70 Jahre später – nach Tschechien gefahren, wo mein Opa seine Kindheit verbrachte. Es wurde eine Reise der ganz besonderen Art.
Ein Wunder, dass wir hier sind!
Epperswagen (Nepřivaz) lag auf einer Art Hochebene, zusammen mit drei weiteren Dörfern. Auf dem Blitzhügel, dem höchsten Punkt im Ort, hatte man eine tolle Aussicht auf das 15 Kilometer entfernte Olmütz.
Mein Opa ist ein wunderbarer Geschichtenerzähler – das war er schon immer. Die Drachen, die er in seiner Kindheit aus Bettlaken seiner Mama baute, sehe ich heute fast am Himmel über mich hinweg gleiten, als ich auf einem ehemaligen Militärübungsplatz stehe. Über Panzerspuren sind schon viel Gras und kleine Büsche gewachsen. Es ist friedlich hier. Der Wind pfeift über die Wiese, Bäume säumen den von Schlaglöchern gezeichneten Asphaltweg.
Vor 20 Jahren mussten meine Großeltern noch querfeldein und heimlich unter dem Schlagbaum durchklettern, der einen Teil des Sperrgebiets Libava hier begrenzte. Damals war alles verwüstet, trostlos. Heute steht die weiß-blaue Metallschranke neben dem „Betreten verboten“-Schild offen. Keine Spur mehr von dem russischen Bunker, dem die Häuser der deutschen Gemeinde einst weichen mussten. In einem dieser Häuser hat Opa die ersten sieben Jahre seines Lebens verbracht. “Meine Heimat ist das nicht mehr. Heimat, Zuhause – das ist für mich ein Ort, an dem ich mich wohlfühle, ein Ort, an dem ich willkommen bin.” Ein bisschen wehmütig wird sein Blick dann aber doch. Mit Epperswagen verbindet Opa nämlich vor allem schöne Momente: Skifahren in Großwasser, Sonntagsfrühstück mit Mama, selbstgebaute Windmühlen und Segelflieger.
Neue alte Erinnerungen
Heute ist kaum ein Weg noch so, wie Opa ihn in Erinnerung hat. An Epperswagen erinnert heute nur noch ein Gedenkstein, vor dem aber frische Blumen in einer Vase stehen. Wenn man meinen Opa, den 83-Jährigen, nun beobachtet, kann man wieder den kleinen Jungen erkennen, der hier einst den Berg hinunterlief, dabei einen Gartenzaun beschädigte und sich dabei etliche Schürfwunden zugezogen – sowie auch noch eine ordentliche Tracht Prügel vom Vater.
Wir sind – 2018! – mit unserem Auto hergekommen, etwas, das man in Epperswagen nie kannte. Ganz im Gegenteil: Man könnte meinen, Autos waren der Anfang vom Ende dieses Ortes, denn mit ihnen kamen die russischen Soldaten, die die Dorfbewohner in zwei Stunden auf ihre Planwagen verluden. Mehr Zeit blieb nicht, um sich zu verabschieden, Familienerbstücke wurden konfisziert, es blieb kaum Erinnerung übrig. Und wohin die “Reise” ging, erfuhren die Epperswagener erst, als sie am Bahnhof Olmütz getrennt wurden. Familien wurden zerrissen, ein Wiedersehen war ungewiss. Plünderungen, Gewalt, Enteignung, Ausbeutung und schließlich die Vertreibung – diese Erlebnisse bestimmten die Nachkriegszeit für die deutsche Minderheit in der Region.
Moderne Studentenstadt
Es muss sich seltsam für Opa anfühlen, Minuten später durch die verwinkelten Gässchen der Olmützer Altstadt zu laufen. Es ist heute eine pulsierende Studentenstadt. Opa hat damals den Grundstein dafür gelegt, als er mit 600 anderen Jungen die Stadt aus den Trümmern des Zweiten Weltkriegs wiederaufbauen musste. Ziegel schleppen von früh bis spät. Wie all die Jungen das Arbeitslager überlebten, weiß Opa bis heute nicht genau. Er hatte Glück: Ein Freund der Familie holte ihn nach zwei Wochen heraus.
Trotzdem waren diese Wochen wohl die dunkelsten in seinem Leben. Aber vielleicht hat mein Opa auch darum bis heute so eine unzerstörbar optimistische und humorvolle Art an sich.
Dieser Beitrag erschien erstmals im Karpatenblatt, der Zeitschrift der Karpatendeutschen in der Slowakei.
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