Wir stehen im ersten Stock der einstigen Joachimthaler Münzprägeanstalt. Heute sitzt dort das Stadtmuseum, das die erste (und auf lange Zeit letzte) Ausstellung über die politischen Gefangenen des Kommunismus beherbergt. Dort, an der Vitrine mit dem Plan des Straflagers Rovnost (Gleichheit) steht ihr Mitautor, Zděnec Mandrholec, selbst ein ehemaliger Häftling des Stalinismus, und erzählt seine Lebensgeschichte.
„Nach meiner Rückkehr aus den kommunistischen Gefängnissen und Uranminen verlor ich meinen Appetit. Man schrieb das Jahr 1960 und ich wohnte bei meiner Mutter in Karlsbad. In meinem Entlassungsprotokoll stand, ich wog noch 49 Kilo. Ich war in einem Zustand, in dem Appetitlosigkeit kein Spaß mehr ist. Und so konsultierte ich einen Bekannten, der in der Stadt als Arzt arbeitete. Er untersuchte mich und gab mir einen hervorragenden Rat. Ich das sollte Wasser
aus allen Karlsbader Quellen probieren und mir dann das aussuchen, das mir am besten bekommt. An dessen Quelle sollte ich jeden Morgen vor und jeden Nachmittag nach der Arbeit Halt machen, um so viel von dem Heilwasser zu trinken, wie nur in mich reinging. Ich tat was er sagte und machte diese Trinkkur gut drei Wochen lang. Mein Appetit kam tatsächlich wieder. Erst dann fand ich heraus, wie die Quelle hieß, deren Wasser mit die Lebenslust zurückgab: Quelle der Freiheit.“
Während Mandrholec erzählt, übersetze ich seine Worte ins Englische. Ich bin mit einer Gruppe amerikanischer Studenten nach Jachýmov oder Joachimsthal, wie das Erzgebirgsstädtchen auf Deutsch heißt, gekommen. Die Studenten sind von der New York University Prague, die junge Amerikaner regelmäßig auf Studienfahrten entlang der Gedenkstätten Mitteleuropas schickt. Im ehemaligen Sudetenland sind sie zum ersten Mal. Den Geschichten über Uranminen und Gulags aus den Anfängen des Kalten Krieges lauschen sie mit offensichtlichem Schrecken in den Augen. Kein Wunder – aus dem Mund eines Zeitzeugen hören sie sich umso menschlicher und damit auch verständlicher an. Zdeněk Mandrholec ist ein sehr aktiver Zeitzeuge. Ein Mukl, wie er in der zynischen Sprache des kommunistischen Regimes genannt wurde. Die Abkürzung Mukl steht dabei für: Můž určený k likvidaci – zur Liquidierung bestimmter Mann.
Zdeněk Mandrholec ist nur einer von 70 000 Mukl, Gefangenen des kommunistischen Regimes, die zur Arbeit in den Straflagern der Joachimsthaler Uranminen verurteilt waren. Immer wieder erzählt er seine Geschichte Interessierten aus der ganzen Welt. In der Region um Karlsbad ist er so schon ein bisschen zur Legende geworden.
Als Vorsitzender des Karlsbader Verbandes der Konföderation politischer Gefangener (KPV ČR) hatte er die meisten neuzeitlichen Gedenkinitiativen im Kreis ins Leben gerufen. Wie zum Beispiel den Kreuzweg vor der St. Joachimskirche auf dem Hauptplatz Jachýmovs. Mandrholec hat die ganzen Baugenehmigungen für einen Umbau des so genannten Turms des Todes, in dem die Häftlinge einst ungeschützt das Uranerz verarbeiten mussten, von einem nationalen Kulturdenkmal in ein internationales Museum beschafft. Er stand Pate für die Erneuerung des Lehrpfads durch die Uranminen und erzählt bis heute tschechischen wie ausländischen Besuchern von seinen Erfahrungen mit dem Kommunismus. Er ist einer der letzten, die übrig geblieben sind, um von ihren Schicksalen zu berichten.
Am Anfang war das Silber
Die Bergmannsstadt Jachýmov oder Joachimsthal, die gezwungenermaßen lange sechs Jahre lang Zuhause für Zděnek Mandrholec war, hat im vergangenen Jahr ihr 500-jähriges Jubiläum gefeiert. Seit ihrer Gründung 1516 ist sie weit über ihre Grenzen hinaus zu Berühmtheit erlangt und war sogar einmal die zweitgrößte Stadt des Landes, gleich hinter Prag. Die Erfolge der Stadt wurden von weniger gelungenen Zeiten abgelöst, die bis heute ihre Schatten werfen auf den einstigen Ruhm der Stadt. Keine andere Stadt des Erzgebirges hat der Welt so viele Errungenschaften und Entdeckungen gegeben, wie Joachimsthal. Es war eine der tiefsten Silberminen des Erzgebirges, die eine nie zuvor gesehene Menge von
Bergleuten und Münzprägern nach Joachimsthal brachte. Sie füllten die Kassen der ansässigen Adelsfamilie Schlick mit qualitativ hochgradigen Münzen, dem Joachimsthaller. Aus thaller wurde Taler und später Dollar. Es war nicht nur Silber, das die Höhen um Joachimsthal herum bargen. Bislang hat man hier über 400 Mineralien gefunden, ein wahres Eldorado für Sammler. Dank der allgegenwärtigen Schachte und Stollen, die vom Silberrausch übrig geblieben waren, konnte man leichter weitere Erze schürfen. Im 20. Jahrhundert stieß man dann hier auf radioaktives Wasser. Es war Joachimsthaler Pechblende, die Marie Curie bei ihren Radium-Forschungen benutzte. In Joachimsthal wurden auch die ersten Radium-Kuren durchgeführt, die vielen Menschen geholfen haben, ihre angeschlagenen Gesundheit, vor allem den Bewegungsapparat, zu kurieren. Unter ihnen auch der Schriftsteller Karl May oder der erste tschechoslowakische Präsident Tomáš Garrigue Masaryk.
Und es war Joachimsthaler Uraninit, das Joachimsthal in der Mitte des Zwanzigsten Jahrhunderts zu einem Ort des Leidens und einem Symbol der Unfreiheit machte.
Von Lager zu Lager
Es waren die Nazis, die in Joachimstahl die ersten Lager bauten. Sie galten Kriegsgefangenen. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs endeten viele der damaligen Aufseher als Insassen des Uranlagers. Und außer ihnen auch Kollaborateuren und gewöhnliche Häftlinge. Und natürlich die Deutschen. Im Jahre 1949 festigt dann das kommunistische Regime seine Machtposition in den Lagern. Mitten im Erzgebirge eröffnet es hier den größten Gulag des Landes. Schon im November 1945 hatte eine geheime Absprache zwischen der tschechoslowakischen Regierung und der Sowjetunion eine unersättliche Nachfrage nach billiger Arbeitskraft geschaffen, die den strategischen Rohstoff Uran schnellstmöglich abbauen, verarbeiten und an sowjetische Militärlabors schicken würde.
Inspiriert von seinem sowjetischen Vorbild begann das kommunistische Regime bald so genannte Feinde der Arbeiterbewegung, gewöhnliche Kriminelle, aber auch die eigenen Genossen in die Uranminen zu schicken. In insgesamt zwölf Straflagern trafen so deutsche Kriegsgefangene auf tschechische Kriegshelden, Kriminelle auf Mitglieder der Intelligenz, Mörder auf Priester, Kulaken auf Kommunisten. Eingebildete wie wirkliche Feinde des Regimes schürften hier Uran im Austausch für ihr Leben und wässrige Suppen. Das absurde Drama hat seine Spuren in Natur und Mensch hinterlassen. Zwischen 1949 und 1961 gingen insgesamt 70 000 Menschen durch die zwölf Straflager der Uranminen. Zurück nach Hause brachten sie vor allem eine gebrochene Gesundheit und ein lebenslanges Trauma, das sich auch auf ihre Freunde und Familien abfärbte.
Vom Straf- zum Ferienlager
Anfangs der 1960er Jahre lohnt sich der Uranabbau in Joachimsthal nicht mehr. Die Straflager werden geschlossen und die Insassen entlassen. Neues Leben erwacht in der kaputten Landschaft. Doch es ist deformiert. Anstelle der ehemaligen Straflager wachsen Datschensiedlungen und Ferienlager für Tausende von Arbeitern und Bauern.
Für die Uranlieferungen hat die Sowjetunion nie bezahlt. Ihr williger Lieferant, die Tschechoslowakische Sozialistische Republik, hat die Zahlungen allerdings auch nie eingefordert. Viele der Lagerinsassen mussten sich bei ihrer Entlassung verpflichten zu schweigen. Und so vergaß man in den darauffolgenden zwanzig Jahren das stalinistische Uranfieber.
Wer aber nicht vergaß, das waren die politischen Gefangenen von damals. Menschen wie Zdeněk Mandrholec. Nach der Wende des Jahres 1989 begannen sie laut auf diesen nationalen Schandfleck zu zeigen. Nach und nach gelang es ihnen die Verbrechen des Kommunismus zu thematisieren und dem Vergessen zu entreißen. Nicht nur in Jachýmov.
Die geheimnisvolle Burg
Dank der Arbeit der ehemaligen Mukl wissen wir heute mehr über die Zeit der Urangulags. Seine Geschichten popularisiert nicht nur der Prager Verein političtí vězni (politische Gefangene). Auch das Museum von Falkenau (Sokolov) ist in Jachýmov aktiv. Es betreibt dort zum Beispiel das Freilichtmuseum „Stollen 1“, und hat auch Teile des Lagers Svornost (Einigkeit) der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Die Skauts von Arnika Jachýmov wiederum kümmern sich um die Grabstätte Eliáš.
Heute sind Jachýmov und seine Umgebung ein unglaublich plastischer Ort der Geschichte, der vieles lehrt: Nicht nur Geschichte selbst, sondern auch Literatur und Poesie, Naturwissenschaft, Geographie oder das Leben im deutsch-tschechischen Grenzgebiet allgemein. Allein das wenige, das aus der Zeit der stalinistischen Gulags übrig geblieben ist, bietet viel Material.
Davon zeugt auch die so genannte Ruine der Paleček-Burg, die das zentrale Logo des Lehrpfades „Die Hölle von Jachýmov“ darstellt. Bei der Paleček-Burg handelt es sich um einen Bau ungeklärter Vergangenheit, mit dem viele unbekannte Schicksale verbunden sind. Wir wissen nämlich nicht wer sie bauen ließ und wann genau sie gebaut wurde. Offensichtlich stammt sie aus den 1950er Jahren und wurde von politischen Gefangenen, die in den Jachýmover Uranminen eingesetzt waren, erbaut.
Einige Zeitzeugen berichten, die Burg sei eine Idee eines sadistischen Aufsehers des Lagers „Rovnost“ (Gleichheit) gewesen, der František Paleček hieß. Er soll die Insassen des Lagers dazu gezwungen haben, die mittelalterlich anmutende Miniaturburg zu bauen. Zur Verschönerung des Appellplatzes und auch zum eigenen Vergnügen. Diese Erzählungen werden allerdings von keinen schriftlichen Quellen gestützt. Und Luftaufnahmen aus den 1950er Jahren belegen, dass die Burg damals noch nicht stand. So oder so. Die Paleček-Burg überlebte die Räumung des Lagers und steht bis heute. Auf dem Gebiet des Lagers Rovnost wurde nach Schließung der Uranminen eine Datschensiedlung gebaut, die inzwischen länger steht, als die Uranlager. Die Paleček Burg befindet sich in der Mitte der Siedlung, umgeben von Datschen. Etwa 30 Meter von im entfernt finden wir das Gebäude, das einst die Umkleideräume des Lagers hauste. Es ist erhalten, wenn auch in schlechtem Zustand. Nur ein Stückchen weiter befindet sich der ehemalige Eingang zur Mine Rovnost, die vor dem Krieg Werner hieß.
Es würde sich sicher lohnen, das Objekt zu erhalten und von den örtlichen Anwohnern mehr über seine Geschichte und den Kontext seiner Entstehung zu erfahren. Das ist eine wichtige Aufgabe für all die, denen Joachimsthal/Jachýmov und seine bewegte Geschichte nicht gleichgültig ist. Denn das Schicksal der Erzgebirgsstadt darf nicht vergessen werden. Es stellt einen Spiegel unserer gemeinsamen Vergangenheit dar.
Dieser Artikel erschien im LandesEcho 5/2017 als Titelthema.
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Zeugen gesucht!
Der Verein „političtí vězni“ ist auf der Suche nach Zeitzeugen und Zeugnissen des Uranabbaus in Joachimsthal. „Wir suchen Bilder, Briefe, einfach alles über den Uranabbau in der Zeit vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg“, sagt der Leiter und Initiator des Projekts Joachimsthal, Tomáš Bouška.
Besonders interessieren ihn die Schicksale der mehreren tausend deutscher Häftlinge, die nach dem Krieg noch vor der kommunistischen Machtergreifung zur Arbeit in den Joachimsthaler Uranminen verdammt waren. Nicht wenige deutschböhmische Spezialisten arbeiteten zudem als zivile Angestellte der Minen.
Führungen und Vorlesungen
„Helfen Sie uns, ihre Namen und Geschichten zu erfahren“, appelliert Tomáš Bouška: „Die Geschichte des Urans in Böhmen wird so um ein Mosaiksteinchen reicher.“
Interessierte lädt der Verein „političtí vězni“ gerne zu Führungen durch die Uranminen und die ehemaligen Straflager ein. „Wir bieten auch Schulungen durch erfahrene Experten an und vermitteln Zeitzeugen, die in den 1950ern in den Straflagern gefangen waren“, sagt Tomáš Bouška. Zudem organisiert der Verein auch Exkursionen für Gruppen und Schulklassen. Nicht nur auf Tschechisch, sondern auch auf Deutsch oder Englisch.
„Nach Absprache organisieren wir Seminare oder Filmvorführungen“, sagt Tomáš Bouška. „Die Geschichte der tschechischen Urangulags und ihrer Insassen sollte verschwiegen werden. Das dürfen wir nicht zulassen.“
Weitere Informationen zum Verein und seiner Arbeit finden Sie: