Tschechiens Rugby-Nationaltrainer hat einen berühmten Vorfahren und eine faszinierende Familiengeschichte.

 

Jindřich Šídlo

Wäre Martin in einem anderem Land geboren worden, in Frankreich oder England, zum Beispiel, wäre er dort ein großer Star. Nicht nur wegen seiner sportlichen Erfolge. Sondern auch wegen der Familiengeschichte, die der 35-jährige Rugbyspieler mit den unendlich breiten Schultern schon in vierter Generation mit sich trägt.

Denn einen seiner Vorfahren kennen hunderte Millionen Menschen auf der ganzen Welt. Ohne zu übertreiben kann man ihn als den berühmtesten Prager aller Zeiten bezeichnen: Franz Kafka.

Noch heute forschen Journalisten aus aller Welt an der Moldau nach Nachkommen des Schriftstellers. Meist bleibt ihnen aber nichts Anderes übrig, als sich das scheinbar einzige zu kaufen, das Kafka heute noch mit Prag verbindet: ein T-Shirt mit seinem Antlitz.

Richtig bewusst ist sich Martin, Jahrgang 1978, seiner Familiengeschichte zum ersten Mal dank dem Rugby geworden, das er mit sieben Jahren zu spielen angefangen hat. „Irgendwann im Jahre 1990 fuhr Martin mit seinem Rugby-Team auf ein Turnier in Italien, das sie prompt gewannen“, erinnert sich Martins Vater Karel Kafka. „Und da hat ihn dann der Präsident des italienischen Clubs, ein großer Bewunderer Franz Kafkas, nach seinem Namen gefragt.“

Martins Herkunft wird erwähnt in der englischen Version der Internet-Enzyklopädie Wikipedia. Bedeutend ist aber auch, dass Martin, als einer der Stars des tschechischen Rugby, Wikipedia-Einträge auf Englisch, Spanisch, Französisch und Japanisch hat. Auf Tschechisch aber nicht.

Damit Martin Kafka die leicht banale Frage, was denn ein etwas wundersamer Schriftsteller und ein Rugby-Star gemeinsam haben, heute überhaupt beantworten kann, musste noch ein weiterer außergewöhnlicher Mensch seine Rolle in der Familiengeschichte spielen.

Erichs Flucht

Martins Großvater Erich Kafka, ein Deutsch-Böhme jüdischer Herkunft aus Saaz (Žatec) war vor dem Krieg ein Fußball-Profi, entkam dem Tod zwei Mal buchstäblich in letzter Sekunde, verdiente sich das Tschechoslowakische Kriegskreuz und die höchsten sowjetischen Auszeichnungen in Busuluk und am Dukla-Pass. So absurd ist die Lebensgeschichte des Erich Kafka, dass sie sich auch dessen Großcousin Franz nicht hätte besser ausdenken können.

„Der Vater meines Opas Erich war ein Cousin Franz Kafkas“, erklärt Martin Kafka, der seit Ende seiner aktiven Sportlerkarriere die tschechische Rugby-Nationalmannschaft trainiert, seinen Familienstammbaum, während er im Café eines Einkaufszentrums im Prager Stadtteil Smíchov einen Milchshake schlürft. „Erich Kafka war ein hervorragender Fußballer. In der Ersten Republik spielte er für den DFC Prag, das war der Club der Prager Deutschen. Später spielte er dann für Teplitz (Teplice) und war sogar zwei Mal in der deutschen Auswahl“, erzählt Martin, der offensichtlich die sportlichen Gene seines Großvaters geerbt hat. „Aber wenn Sie etwas Kafka-eskes an mir suchen, nun meine Mutter sagt immer, der Kafka in mir würde mich immer an allem zweifeln lassen“, lacht Martin.

Erich Kafka, gebürtig in Saaz im Jahre 1901 oder 1902 (das genaue Geburtsdatum geht selbst aus erhaltenen Dokumenten nicht hervor), macht eine Lehre als Zahntechniker, aber nicht lange. Ihn lockt der Fußball. Leider muss er seine Karriere, die verheißungsvoll begonnen hatte, schon früh abbrechen, einer nicht heilen wollenden Knieverletzung wegen. „Er kannte aber alle bedeutenden Fußballer seiner Zeit, sie trafen sich immer im Café Savarin“, weiß Erichs Sohn, Martins Vater Karel Kafka. Als Erich seine Fußballschuhe an den Nagel hängen muss, findet er Anstellung als Vertreter der Egerer Firma Langhammer. Kurz vor dem Krieg bringt ihn das Schicksal so nach Tschechisch Teschen (Český Těšín).

Erich Kafka ist zwar Deutscher. Aber er auch Jude, was in dieser Zeit nicht gerade ein Gewinn ist. Erich Kafka wird Teil der Geschichte, als er in einen der überhaupt ersten Transporte verfrachtet wird, mit denen die Nazis die Juden gen Osten schaffen. Ihr Ziel: das polnische Städtchen Nisko. Dort sollte ein „Reservat“ entstehen, noch bevor die Nazis ihren Plan für die „Endlösung“ ausklügelten, in dem es dann keinen Platz für „Reservate“ gab, in denen Menschen leben würden. Und so beginnt die Odyssee des Erich Kafka, Großcousin von Franz, in einem Viehwagon in Polen.

Als der SS-Mann, der ihn bewacht, beim Wasserholen einem gewissen Vergnügen nachgeht, haut Erich einfach ab. Zusammen mit ihm fliehen weitere elf Menschen. Zehn fangen die Nazis schnell wieder ein. Sie töten sie auf der Stelle. Erich erwischen sie nicht. Niemand weiß heute, wie viele Tage er auf der Flucht war. Zwei Tage aber soll er irgendwo zwischen dem heutigen Polen und der Ukraine im Wasser gelegen haben. Schlussendlich gelingt Erich seine erste Flucht: Er schafft es nach Lemberg (Lvov/Lviv), auf dem Gebiet der damaligen Sowjetunion.

Auf seine Rückkehr in die Tschechoslowakei wird er noch fünf Jahre lang warten müssen. Nach ein paar Jahren als Fabrikarbeiter und einer verworrenen Reise durch die Sowjetunion, meldet er sich 1943 bei einer tschechoslowakischen Kampfeinheit. Ein Jahr später tritt er in die II. tschechoslowakische Fallschirmjäger-Brigade ein, wo er seine spätere Frau, die Polin Vilma Mastella, kennen lernt, deren Schicksal einen eigenen Artikel füllen würde. Vilma lebte in einem Teil Polens, der durch den perversen Molotow-Ribbentrop Pakt an Stalins Imperium fiel. Ihre Herkunft aus dem anderen, dem „deutschen“ Teil Polens aber, verdiente ihr eine Verhaftung und eine Fahrt nach Sibirien.

Von dort aus gelangte sie, unter ungeklärten Umständen, nach Busuluk, wo sie Erich kennenlernt. Zusammen gelangen sie dann während des slowakischen Nationalaufstandes an die Front in den Karpaten und machen den so genannten Todesmarsch, eine mehrtägige Gewalttour durch die Berge, mit. Sie überleben alles, was in der II. Fallschirmjäger-Brigade keineswegs üblich war. Dennoch sind sie noch nicht am Ziel.

Bevor der Krieg definitiv enden und Erich Kafka mit Vilma Mastella, später Kafková, eine neue Familie gründen kann, dessen bislang letztes Mitglied ein bekannter Rugbyspieler werden sollte, werden beide fast einem Hinrichtungskommandos gegenübergestellt. „Meine Mutter wollte unbedingt ihrer Familie in der Arwa eine Nachricht zukommen lassen. Und von der Slowakei aus, wo die Kämpfe zu diesem Zeitpunkt schon geendet hatten, war das nicht weit. Aber auf dem Rückweg erwischten sie die Deutschen“, erzählt Karel Kafka ein weiteres Kapitel der Familiengeschichte.

„Und meinem Vater stieß etwas ähnliches in Tschechisch Teschen zu, wohin er gegangen war, nachdem die Kämpfe in der Slowakei geendet hatten. Und dort wurde er von jemandem verraten.“

Weiter hört sich diese Geschichte schon fast unwahrscheinlich an und nach fast siebzig Jahren lassen sich die Fakten kaum noch nachprüfen. Sicher ist aber, dass sich die Odyssee Erich Kafkas so ereignet hat. Das bestätigen Beweise, die im Familienarchiv der Kafkas liegen und sich kaum anzweifeln lassen: die höchste sowjetische Auszeichnung für Heldentaten im Krieg und eine Medaille für den Kampf im Slowakischen Nationalaufstand.

Typisch Kafka

„Einer der deutschen Soldaten in Teschen erkannte meinen Vater als seinen ehemaligen Gegner auf dem Fußballfeld und ließ ihn abhauen. Der Sport rettete ihm das Leben“, sagt Karel Kafka. „Und meiner Mutter ging es ähnlich im Brünner Gefängnis. Sie war wegen Hochverrats und Spionage zum Tode verurteilt worden. Aber am Abend vor der Hinrichtung half ihr jemand zu entkommen. Sie ging nach Iglau (Jihlava), wo sie sich unter falschem Namen bis zum Ende des Krieges versteckt hielt.“ Nach dem Krieg trafen sich die zukünftigen Eltern Karel Kafkas und Großeltern Martin Kafkas im Mai 1945 in Prag.

Zu diesem Zeitpunkt war Franz Kafka schon über 20 Jahre tot. Sicher würde ihn das Schicksal seiner Familie nicht kalt lassen. Und dabei haben wir noch gar nicht angefangen, von Martin zu erzählen.

Der tschechische Rugby, dem sich im ganzen Land etwa 5000 Männer widmen, ist ein armer Sport. Sowohl was seine Ergebnisse betrifft, als auch die Geldsummen, die sich in ihm drehen. Martin Kafka, der seit 2007 die tschechische Rugby-Nationalmannschaft trainiert, kann ein Lied davon singen. Der Jahreshaushalt der Tschechischen Rugby Union würde der Fußball-Nationalmannschaft nicht mal für ein Wochenende ausreichen. Leistungsmäßig stehen die Tschechen im Rugby weltweit etwa an 40. Stelle, wobei zwischen den ersten 15 bis 20 Teams und dem Rest der Welt ein riesiger Graben herrscht, der wohl nie überbrückt werden wird. Ein Match zwischen Tschechien und dem vielfachen Weltmeister Neuseeland, das allerdings nur theoretisch ist, weil beide Mannschaften noch nie aufeinandergetroffen sind und auch kaum aufeinandertreffen werden, würde etwa 400:0 für Neuseeland ausgehen.

Martin Kafka gehört aber der glücklichen und, für tschechische Verhältnisse, außergewöhnlichen Generation an, die vor etwa zehn Jahren durchaus ausgeglichene Spiele in der zweiten Garde des europäischen Rugbys, zu der zum Beispiel Russland, Rumänien oder Georgien gehören, zustande gebracht hat. Martin spielte mit der Nummer 10, die im Rugby dem Verbinder gehört, einer Schlüsselfigur auf dem Spielfeld, der die Taktik des Spiels bestimmt und die Mannschaft wenn es eng wird zusammenhalten muss.

Kafkas Spielerqualitäten liegen offensichtlich weit über dem tschechischen Durchschnitt: zweimal war er der nach Punkten beste Spieler der spanischen Liga, in der er von 1999 bis 2003 spielte. Den Höhepunkt seiner Karriere erlebte er in der Saison 2003 – 2004, als er in der höchsten französischen Rugbyliga für das Team Castres spielte. Frankreich gilt als Rugby -Großmacht und ist amtierender Vizeweltmeister. Die Leistung des Martin Kafka ist daher vergleichbar mit der eines tschechischen Fußballers, der zum Kapitän einer Mannschaft der englischen Premier League aufsteigt oder eines Eishockey-Spielers, der an der Spitze der NHL spielt.

Kafka war noch keine 30, als er mit dem Rugby aufhören musste. Seine kaputten Knöchel erlaubten ihm nicht mehr als eine abschließende Saison in Japan.

Seit 2007 trainiert Martin Kafka, der in Ostrava (Ostrau) französische und spanische Linguistik studiert hat, und inzwischen auch die höchste französische Lizenz für Rugby-Trainer besitzt, die tschechische Nationalmannschaft. Die ist allerdings dennoch für lange Zeit zu Niederlagen selbst gegen durchschnittliche europäische Teams verurteilt. Dabei könnte Martin bis heute spielen – sofort würde ihn jedes tschechische Erstliga-Team nehmen. Selbst aus dem Ausland, wenn auch aus niedrigeren Ligen, bekommt er bis heute Angebote.

„Nur werde ich Rugby nie wieder spielen“, sagt Martin Kafka entschlossen. „Einmal habe ich es nach Ende meiner Karriere versucht. Und es war ein schreckliches Erlebnis: In dem Augenblick, in dem ich es gewohnt war, weit vor den Verteidigern zu sein, blieb ich auf einmal auf ihrer Höhe.“

Martins Vater Karel Kafka kann dazu nur lächeln. „Natürlich könnte er noch spielen. Und zwar hervorragend. Aber er wird es nicht. Weil er andauernd von Selbstzweifeln geplagt ist. Ein typischer Kafka, eben.“

 

Der Autor ist Kommentator der Tageszeitung Hospodářské noviny, in der dieser Artikel im November 2011 erschien, und freut sich, dass die Geschichte der Kafkas über die LandesZeitung auch in deutscher Sprache bekannt wird.

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