Die Zeitschrift „Osteuropa“ widmete Tschechien ein Themenheft: „Schüsselland Tschechien. Politik und Gesellschaft in der Mitte Europas“.
Wer mehr zu den Gründen und Hintergründen der jüngsten Parlamentswahlen in Tschechien wissen will, ist mit diesem Sonderheft der Zeitschrift „Osteuropa“ („Schlüsselland Tschechien. Politik und Gesellschaft in der Mitte Europas“) bestens bedient. Ursprünglich sollte es bereits im Sommer erscheinen. Nun aber kommt es zum Stichtag der Wahlen eigentlich gerade recht. Sind sie doch für die deutsche Öffentlichkeit ein aktueller Anlass, den Fokus auf einen Nachbarn zu lenken, der, wie die Herausgeber bemerken, vertraut erscheint und doch fremd geblieben ist. Doch auch dem tschechischen Leser mag diese Gesamtschau manch Spezifisches wie Allgemeines an Erkenntnissen über sein eigenes Land vermitteln.
24 Beiträge aus zumeist tschechischer Feder beschreiben auf 432 Seiten (fast) das ganze Spektrum der Politik und Gesellschaft eines Landes, das hier als „Schlüsselland“ in der Mitte Europas bezeichnet wird. Wie immer das gemeint sein mag: Ein Schlüssel zum besseren Verständnis der Nachbarn Polen und Ungarn ist Tschechien eher nicht. Dort herrsche aus Sicht der beiden Karlsuniversitäts-Professoren Ondřej Císař und Michal Kubát ein identitätspolitisch begründeter nationalkonservativer Populismus, der im Namen der Religion bzw. der nationalen Größe (und Traumata) den liberalen Verfassungsstaat außer Kraft setzt. In Prag hingegen regiere mit Andrej Babiš der Typus eines technokratischen „Manager-Populisten“. Bürgerliche Freiheiten, staatliche Gewaltenteilung und demokratische Regularien blieben davon weitgehend unberührt. Die jüngsten Parlamentswahlen haben dies eindrucksvoll bestätigt. Von Tschechien als einem „Bollwerk“ der Demokratie mögen die beiden deutschen Osteuropa-Experten Kai-Olaf Lang und Volker Weichsel indes nicht sprechen. Die Stabilität der Institutionen hänge womöglich damit zusammen, dass ein echter Belastungstest bisher ausblieb. Grund dafür sei eine politische Kultur des Pragmatismus, die Politik und Gesellschaft eher weniger politisiert und polarisiert. Gleichwohl sei auch hier ein anwachsendes Misstrauen gegen Establishment, Eliten und Migranten spürbar, bis hinauf zu Präsident Zeman. Gleichzeitig, so konstatieren die beiden Politikwissenschaftler Vlastimil Havlík (Brünn) und Martin Mejstřík (Prag), unterlägen die klassischen Parteien einer für das demokratische Wechselspiel folgenreichen Erosion. Sie verlören ihr programmatisches Profil, ihre Mitglieder und Wählerbindung und lösten sich so aus ihrer gesellschaftlichen Verankerung. Aus Volksparteien, so das Fazit der beiden Professoren, würden Kartellparteien, zuständig für die Mobilisierung bei Wahlen und die Postenverteilung danach. Damit folgt Tschechien dem Weg, der überall in Europa, zuletzt auch in Deutschland, zu beobachten ist.
Was die Beziehungen zwischen Tschechien und Deutschland betrifft, so liegen die unterschiedlichen Gewichte klar auf der Hand: Das geografisch große, politisch stabile und ökonomisch potente Land in der Mitte Europas hat für die Prager Außenpolitik weitaus größere Bedeutung als umgekehrt. Der deutsche Beobachter Kai-Olaf Lang spricht von einem außerordentlich guten Zustand der bilateralen Beziehungen und beobachtet eine Mischung aus Bewunderung und Skepsis in der tschechischen Öffentlichkeit gegenüber den Deutschen. Sein Prager Kollege Vladimír Handl hingegen analysiert eher nüchtern eine „asymmetrische Machtverteilung“ in diesem Verhältnis und macht – etwa in der „Migrationskrise“ – durchaus gewisse Schwankungen aus. Den von Lang hoch gelobten außenpolitischen „strategischen Dialog“ zwischen Prag und Berlin stuft er als eher technisch funktionierende Zusammenarbeit ein. Was fehle, sei die gemeinsame Entwicklung strategischer Ziele, etwa in der Klima- oder Digitalisierungspolitik. Die Grenzschließungen infolge der Pandemie, so klagt er, hätten aller Welt einmal mehr vor Augen geführt, wie stark die nationalen Reflexe hüben wie drüben noch immer verankert seien.
Deutsch-tschechische Differenzen und Übereinstimmungen halten sich, was die im Heft behandelten Themen betrifft, in etwa die Waage. Gemeinsame (Negativ-)Tendenzen finden sich beispielsweise in den leeren Kirchen oder im schleppenden Prozess der Frauen-Emanzipation. Gemeinsam auch ist der wachsende Finanzdruck auf den Qualitätsjournalismus. Positive Trends zeigen sich beim ökologischen Umbau in Wirtschaft und Verkehr. Tschechien bringt gut ausgebaute Stromnetze in den europäischen Energieverbund ein. Davon kann, wie geschehen, auch Deutschland profitieren. Bei der Energiegewinnung allerdings gehen beide Länder getrennte Wege. Tschechien setzt auf eigenen Atomstrom, Deutschland auf alternative Energien und russisches Erdgas. Beides wird reziprok schweigend toleriert. Die digitale Transformation in Wirtschaft und Gesellschaft braucht hier wie dort einen gewaltigen Schub. Nur wenig Leuchttürme weisen bisher ins gelobte Silicon Valley.
Sehr verdienstvoll sind die 69 Abbildungen und 24 Karten, die den Band illustrieren und den Zugang zu den anspruchsvollen Texten erleichtern. Was zu kurz kommt, ist die Kultur. Dies ist besonders bedauerlich. Einmal wirkte sie in den böhmischen Ländern selbst in den finstersten Zeiten nach innen als starkes zwischenmenschliches Bindeglied, nach außen als weit sichtbares Zeichen der Selbstbehauptung und Humanität. Zudem hat gerade die kulturelle Kreativität Deutsche und Tschechen wechselseitig bereichert und befruchtet und so zu den besten und schönsten künstlerischen Leistungen geführt. Vor diesem Hintergrund hätte sie größere Beachtung verdient als nur einen Literatur-Überblick, der überdies die jüngere Autorengeneration weithin außer Acht lässt.
Osteuropa 4-6/2021: Schlüsselland Tschechien. Politik und Gesellschaft in der Mitte Europas. Preis: 32,00 EUR.