Letztes Jahr besuchten mehr als siebeneinhalb Millionen Gäste die tschechische Hauptstadt Prag. Die unangenehmen Begleiterscheinungen des Massentourismus steigern aber immer mehr den Verdruss der lokalen Bevölkerung. Die Frage ist: Wie schafft man den Paradigmenwechsel hin zu einem „sanften Tourismus“, von dem die Stadt auch als Ganzes profitiert?

„Mir tut es weh“, sagt Günther Krumpak Radio Prag über den zunehmenden Massentourismus. Denn hinter Prag stecke wesentlich mehr, als „Burg, Brücke und Bier“, wie er das übliche Programm der Besucher nennt. Mit Krumpak möchte ein Hotelier es ganz anders machen: Der Österreicher betreibt im Stadtteil Vršovice ein Gasthaus, das den Gästen „eine gewaltige Portion aus Geschichte und Kultur“ servieren soll. Damit grenzt er sich vom Tourismusverband ab, der Krumpak zufolge sehr stark auf die Masse setzt.

Die Zahlen des tschechischen Statistikamtes untermauern diesen Eindruck: Letztes Jahr besuchten rund 7,7 Millionen Menschen die tschechische Hauptstadt. Das sind über zwei Millionen Gäste mehr als noch vor vier Jahren. Schon damals zeigte sich in der Bevölkerung Unmut insbesondere über den lauten Bier- und Partytourismus. Der Lokalpolitiker Filip Pospíšil formulierte für die Zeit, die Anwohner würden wie „Bürger zweiter Klasse“ behandelt. Man darf gespannt sein, wie das Thema in den Kommunalwahlen im  kommenden Oktober aufgegriffen wird. Zumal erst Ende April ein Vorfall auch bei Radio Prag Schlagzeilen machte: Dabei schlugen mehrere niederländische Staatsbürger den Kellner eines Prager Restaurants brutal zusammen. Laut Polizeiangaben handelte es sich um Box- und Kraftsportler, die ihre körperliche Stärke rücksichtslos einsetzten.

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Hausgemachte Probleme

Die Attacke sorgte auch in der nationalen Politik für Aufruhr: Der Sozialdemokrat Jaroslav Foldyna nahm den Vorfall zum Anlass für seine Forderung, die tschechischen Bürger zu bewaffnen. Er behauptete, dass ein „Warnschuss“ die Angreifer unter Kontrolle gebracht hätte. Und der ehemalige Premierminister und erfolglose Präsidentschaftskandidat Mirek Topolánek zweifelte aufgrund ihres dunklen Teints an, dass die Täter „wahre Niederländer“ seien. Ein Blick auf Prags Straßen zeigt, dass diese populistischen Sichtweisen verständlichen Ärger aufgreifen, aber klar am Thema vorbeizielen: Am Wenzelsplatz finden sich die Striplokale, die stark alkoholisierte Gruppen junger Männer geradezu magisch anziehen.

Ein Tourismuszweig hat sich zudem auf die „Pissup“-Touren spezialisiert. Sie locken vor allem eine englischsprachige Klientel mit „Beers, Babes & Bullets“. Und wer am Sonntagabend mit dem Linienbus nach München fährt, ist mit dem Phänomen der Junggesellenabschiede wohlvertraut. Hiermit soll nicht der Eindruck erweckt werden, dass es sich bei diesen lauten und oft respektlosen Gruppen um potenzielle Gewalttäter handelt. Aber es zeigt, dass die Missstände in Prag hausgemacht sind. Mit Zielgruppen, die das Gegenteil eines „sanften Tourismus“ verkörpern, wird die Last der zunehmenden Besucherzahlen noch zusätzlich verschärft.

Die Prager geben sich gerne weltoffen. Parolen wie „Tourist go home!”, wie sie an Demonstrationen in spanischen Urlaubsorten gerufen werden, hört man kaum. In Gesprächen wird der Unmut aber spürbar: Für die Lokalbevölkerung entwickelte sich die Achse zwischen Altstädter Ring, Karlsbrücke und Prager Burg zu einer gefühlten No-Go-Zone. Die Stadtbewohner reagieren mit dem Rückzug in ein wenig abseits gelegene Straßen. Dort bleiben sie unter sich und können ihr Feierabendbier zu zwei- bis dreimal niedrigeren Preisen genießen.

Neben handfesten Problemen wie Lärmemissionen und durch den Airbnb-Boom angestiegenen Wohnungspreisen erscheint es als absurd, dass sich die gebürtigen Prager im historischen Stadtzentrum fremd vorkommen. Der ungute Eindruck wird durch den österreichischen Tourismusexperten Vladimir Preveden bestätigt: Dem Standard sagte er, dass Prag zu den Städten gehöre, in denen der Fremdenverkehr nicht positiv zur Wertschöpfung beitrage. Über die Probleme besteht durchaus Konsens. Doch nun stellt sich die Frage: Was kann Prag besser machen? Dazu werden im Folgenden drei Gedanken skizziert, wie man ein besseres Miteinander von Stadtbewohnern und Besuchern erreichen könnte.

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Ein Stadtzentrum für alle

Es hilft nicht, sich nur über die Anwesenheit der Touristen zu beschweren. Stattdessen sollten die Bürgerinnen und Bürger, die Zivilgesellschaft und die Lokalpolitik dafür sorgen, dass der historische Stadtkern zu einem wahrhaften Zentrum des Prager Stadtlebens wird. Ein Versuchsort könnte der Altstädter Ring sein: Der über 9000 Quadratmeter große Platz beherbergt mit dem Altstädter Rathaus und dem Jan-Hus-Denkmal bedeutende Monumente der lokalen und der nationalen Geschichte. Genauso müsste der Platz auch für die Gegenwart von Bedeutung sein: Warum dort nicht öffentliche Versammlungen abhalten? Oder ein Musikfestival?

Bereits heute gibt es ein Freilichtkino auf der in der Nähe des Nationaltheaters gelegenen Schützeninsel (Střelecký ostrov). Man sollte den Mut haben, mehr solche Veranstaltungen im Zentrum durchzuführen. Dadurch könnte die augenfällige Hegemonie der fähnchenschwenkenden Touristenführer, der Tretboote und des nicht aus Prag stammenden Gebäcks „Trdelník“ gebrochen werden. Es geht nicht darum, mit möglichst scharfer Gesetzgebung oder gar Feindseligkeit die Besucher zu vergraulen. Sympathischer ist ein Ansatz, in dem die Bevölkerung durch eigene Initiative mehr Präsenz im Stadtzentrum zeigt.

Sprachstolz zeigen

Ein wichtiges Element für ein stärker sichtbares Lokalkolorit ist die Sprache. Schade nur, wird sie in Prag zu sehr versteckt: Selbst fließend Tschechisch sprechende Ausländer erhalten von vielen Kellnern die Antwort auf Englisch. Eine Videokampagne des Zentrums zur Integration von Ausländern (Centrum pro integraci cizinců) wollte genau das ändern. Aber zu tief ist die Vorstellung verankert, dass Tschechisch die „schwierigste Sprache der Welt“ und gar nicht erlernbar sei. Natürlich ist es nicht realistisch, dass erstmalige Besucher ihren Schweinebraten in der Lokalsprache bestellen.

Aber man kann sich gerne ein Beispiel an einer gutbürgerlichen Kneipe im Nordosten Prags nehmen: Dort sitzen neben vielen Tschechen immer auch Ausländer. Die Kellner verteilen zunächst eine tschechische Speisekarte. Wer danach fragt, erhält aber problemlos ein englischsprachiges Exemplar. So sollte es sein: Ausländische Gäste freundlich behandeln, aber nicht verhätscheln. Dagegen wenn alles von vornherein in Fremdsprachen angeboten wird, haben die Besucher kaum mehr das Gefühl, dass sie sich in Tschechien befinden. Ein gesunder Sprachstolz strahlt auch Selbstachtung aus und verteilt die Rollen von Gastgebern und Gästen eindeutig. Zumal die Erfahrung zeigt: In Lokalen ohne aggressive Touristenwerbung sind Freundlichkeit, Qualität und Preise ein bis zwei Klassen besser.

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Ganz Prag ist eine Reise wert

Sowohl der Hotelier Krumpak als auch der Tourismusexperte Preveden sagen, dass sich die Besucher auf einem sehr engen Raum zwischen Burg, Karlsbrücke und Altstädter Ring tummeln. Preveden bezeichnet Prag deswegen als ein „Negativbeispiel“. Die Konzentration auf engstem Raum ist erstaunlich. Denn die Stadt hat viel mehr zu bieten: Zum „tanzenden Haus“ und dem Vyšehrad verirren sich noch einige klassische Touristen. Eine andere Klientel zieht es auch in das als Hipster-Viertel bezeichnete Žižkov.

Sonst ist vieles aber sehr unbekannt: Dabei haben zum Beispiel das einstige Arbeiterviertel Holešovice, die sozialistische Plattenbausiedlung Chodov und das Villenviertel Hanspaulka ihren eigenen Charme und sagen viel über die Geschichte der Stadt aus. Fast nicht herumgesprochen haben sich auch die zahlreichen Naturschönheiten am Prager Stadtrand: Die Schutzgebiete Divoká Šárka und Prokopské údolí bieten eine wildromantische Landschaft, die so nahe am Zentrum einer Millionenmetropole nahezu unvorstellbar erscheint. Mit einer gezielten Kampagne könnte man schon erreichen, dass sich die Besucher mehr in der ganzen Stadt verteilen. Leider scheint diese Idee die Prager Tourismusverantwortlichen noch nicht erreicht zu haben. Jedenfalls propagiert das offizielle Touristikportal weiter das, was man „Burg, Brücke und Bier“ nennen könnte.

Die hier skizzierten Gedanken haben keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Und für konkrete Schritte ist die im kommenden Herbst neu gewählte Stadtverwaltung zuständig. Aber in Anbetracht der ungebrochen steigenden Besucherzahlen ist nur eine Frage der Zeit, bis das Thema noch prominenter auf der lokalpolitischen Agenda erscheint. Eine Wende hin zu einem „sanften Tourismus“ ist unumgänglich. Wichtig ist aber auch, dass ein solcher Wandel nicht mit der Brechstange erzwungen werden kann.

Das Land abzuschotten wie vor 1989 ist glücklicherweise nicht mehr möglich. Vielmehr geht es darum, mit möglichst wenig Zwang und Gesetzesänderungen einen Mentalitätswandel und ein besseres Miteinander von Einheimischen und Gästen zu erreichen. Prag ist auf die Besucher angewiesen. Das heißt aber auch, dass man die eigenen Bedürfnisse definieren sollte. Nur so kann die Stadt als Ganzes profitieren.

 

Dieser Kommentar erschien zuerst auf dem pragerblog von Niklas Zimmermann.

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