Radka Denemarková gehört zu den wichtigsten zeitgenössische Autorinnen Tschechiens. Ihre Bücher werden in 22 Ländern verlegt. Pünktlich zur Leipziger Buchmesse ist ihr Roman „Ein Beitrag zur Geschichte der Freude“ auf Deutsch erschienen. Darin führen drei Frauen ein geheimes Archiv über vergewaltigte Frauen. LE sprach mit der Autorin über das Buch, warum sie so lange nicht in Deutschland verlegt wurde und wie es ist, alleinerziehende Mutter und freie Autorin zu sein.

LE Im Februar ist beim Verlag Hoffmann & Campe Ihr Roman „Ein Beitrag zur Geschichte der Freude“ erschienen. Es liest sich zunächst wie ein Krimi, ist aber keinesfalls ein klassischer Kriminalroman. Und es geht um Gewalt an Frauen. Man hat das Gefühl, Sie legen lauter falsche Fährten, denn der Buchtitel hört sich für so ein Thema viel zu positiv an.

Das ist ironisch gemeint. Der Roman ist eine Parodie auf überkommene literarische Formen wie Kriminalroman, essayistische Studien, wissenschaftliche Konferenzbeiträge. Das alles wird in dem Roman aber eher miteinander verwoben als dass ich mich darüber lustig mache. Und zum Titel: Mit „Freude“ ist Sex gemeint.

Als ich das Buch begann, gab es diese Welle von Kriminalromanen, wo es am Anfang ein Opfer gibt und sich am Ende der Schuldige findet – also Happy End – alles aufgeklärt. Ich wollte dagegen zeigen, dass das im Leben weit komplizierter ist. Es gibt einen Polizisten, der einen normalen Fall vor sich hat, aber über diesen Fall gerät er an immer neue Fälle und auf einmal wird es kompliziert und die Polarität von Täter und Opfer passt nicht. Der Fall geht auch dem Polizisten an die Nieren. Man kann also sagen, es ist eine Art existenzieller Kriminalroman.

LE Eine wichtige Rolle spielen ja Schwalben, die eine wissenschaftliche Konferenz abhalten.

Ich brauchte jemand mit Abstand, der nicht weiß, dass wir unsere Erde so aufgeteilt haben, dass es Staatsgrenzen, Nationen und Religionen gibt. Der nicht versteht, warum es für uns so wichtig ist, ob wir in der Haut eines Mannes oder einer Frau stecken. Und die Schwalben kapieren auch nicht, was hier passiert, was die biologische Art Mensch eigentlich macht. Für die wissenschaftliche Konferenz brauchte ich auch eine andere Sprache, eine, die zwischen Prosa, Poesie und Essay wechselt. Das war auch ein Experiment. Es ging mir darum, dass eine Gruppe von Körpern, Körper zweiter Klasse sind und bestimmte Verbrechen verharmlost werden und was das bedeutet. Das Buch ist ein kompromissloser Text über sexuelle Gewalt und es ist alles darin: Ironie, schwarzer Humor, sehr problematische Hauptfiguren und leider ist der Stoff real, auch wenn die Geschichte natürlich fiktiv ist.

Die Schwalben sind übrigens literarisch dankbare Figuren. Sie sind das Symbol der Hoffnung, des Frühlings und in der slawischen Mythologie stehen die Schwalben für die Seelen der gestorbenen Frauen.

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LE Der Roman scheint in Zeiten von MeToo wie bestellt, dabei erschien er bereits 2011. Was war Ihre Motivation, sich mit dem Thema zu befassen?

Ich habe mich schon länger damit getragen. Der letzte Impuls kam vor Jahren bei einer Veranstaltung in Deutschland, als ich aus dem Buch „Ein herrlicher Flecken Erde“ las. Da war ein älterer Herr, der sehr aggressiv auftrat. Ich konnte ihn gut verstehen. Er stammte aus einer Familie von Sudetendeutschen, die aus Tschechien vertrieben worden waren. Aber leider lud er all seinen Frust an mir ab, fragte, wann die Tschechen endlich die Sudetendeutschen entschädigen werden. Ich habe ihm immer nur geantwortet, dass ich keine Politikerin bin und ich ihn verstehe. Aber irgendwann habe ich spontan zurückgefragt: Mich würde eher interessieren, wann alle Frauen entschädigt werden, die damals im Krieg von Soldaten aller Armeen vergewaltigt wurden. Genauso spontan, wie ich diese Frage aufgeworfen hatte, antwortete er mir: Die wurden doch nur vergewaltigt. Dieses Wort nur habe ich mit nach Hause genommen und mir vorgenommen, dass ich das in alle Kontexten verwenden und enthüllen werde. Im Tschechischen hängt daran noch ein Wortspiel, denn nur heißt auf Tschechisch jen, was auf Chinesisch, wenn auch anders geschrieben, „Schwalbe“ heißt.

LE Es ist erst Ihr zweiter Roman auf Deutsch. In Tschechien sind Sie bereits etabliert mit einem umfangreichen Werk. Dabei lief der erste Roman „Ein herrlicher Flecken Erde“, auf Tschechisch „Peníze od Hitlera“ (Geld von Hitler), gar nicht schlecht und hatte ja auch eine Thematik mit deutschem Bezug. Warum hat es trotzdem zehn lange Jahre gedauert, ehe ein neues Buch erscheint?

Für  mich ist das selbst ein großes Rätsel. Anfangs hat mich das noch stark beschäftigt. Aber dann habe ich mir gesagt, dass das gar nicht meine Sache ist. Ob sie mich nun jetzt, später oder erst nach meinem Tod veröffentlichen, hat mich nicht zu interessieren. In diesem durch ökonomischen Pragmatismus geprägten Literaturbetrieb, was ich für eine gefährliche Entwicklung halte, kann niemand abschätzen, wie sich Verleger verhalten. Aber das heißt auf keinen Fall, dass ich mich beim Schreiben daran anpassen werde. Argumente, dass ich anspruchsvolle Literatur für einen engen Leserkreis schreibe, lasse ich nicht gelten, weil sich zeigt, dass diese Teilung nur von Literaturtheoretikern vollzogen wird. Ich habe Leser aus allen möglichen Kreisen.

Aber ich gebe zu, es hat mich sehr überrascht, dass ich in Deutschland nicht mehr verlegt wurde. Das war eine wichtige Erfahrung, weil ich erst gedacht hatte, alles läuft jetzt automatisch. Das erste Buch hatte sehr gute Besprechungen, gewann mehrere Preise und es verkaufte sich gut und wurde als Paperback aufgelegt. Und trotzdem wurde ich nicht mehr übersetzt. Ich schreibe natürlich immer über andere Themen. Ich gehöre nicht zu den Autoren, die sobald sich ein Thema bewährt hat, darüber bis ans Ende ihres Lebens schreiben. So was interessiert mich nicht. Das Risiko, neue Themen anzugehen, ist wichtig und inzwischen bekomme ich die Bestätigung. Das Buch „Ein Beitrag zur Geschichte der Freude“ ist jetzt sehr gefragt und wird in vielen Ländern verlegt.

LE Sehen Sie das schon immer so oder war das eine Entwicklung?

Das ist schon immer so und ich denke, so muss es auch sein. Jedes meiner Bücher würde ich heute wieder genauso schreiben. Ich kann es nicht leiden, wenn Verleger nach dem „neuen Buch“ fragen. Das zeugt nur von Unverständnis der Literatur. Es gibt keine Gegenwartsliteratur oder Vergangenheitsliteratur. Wenn ich mir heute Kafka oder Dostojewski zur Hand nehme, dann ist das für mich neue Literatur der Gegenwart. Alle meine Bücher, egal ob ich sie vor 20 Jahren schrieb oder jetzt, sind Gegenwartsliteratur. Dieses Marktdenken, das die Literatur immer mehr erfasst, tötet jede Kunst. Gerade in der Literatur ist es wichtig zu riskieren. Literaturkritiker gehen immer die ausgetretenen Wege und haben Erwartungen. Aber Kunst bedeutet Kreativität und die ist uferlos.

LE Aber Sie stecken ja auch mit drin, denn Sie leben davon, Autorin zu sein. Wie gelingt Ihnen das?

Ich weiß nicht, wie ich das überlebt habe. Inzwischen ist natürlich alles in Ordnung. Meine Bücher erscheinen in 22 Ländern. Also bin ich Gott sei Dank finanziell abgesichert. Aber da läuft nichts von allein und es bleibt ein Kampf und darüber werde ich auch einmal schreiben. Speziell bei mir ist es ja so, dass ich allein zwei Kinder großziehen musste, und das alles als freie Autorin. Ich habe mir das Talent nicht ausgesucht, aber ich habe es nun einmal, also gehe ich verantwortungsvoll damit um. Aber in diesem Land allein als freie Autorin zwei Kinder ernähren und gleichzeitig keine faulen Kompromisse zu machen, ist wirklich anspruchsvoll. Es war also wichtig, viele andere Dinge zu tun. Ich schrieb Drehbücher für Dokumentarfilme für das Fernsehen. Ich habe eine Zeit im Theater als Dramaturgin gearbeitet. Ich habe viel übersetzt, habe Vorlesungen gehalten. Irgendwie habe ich das immer zusammengepuzzelt, wie es gerade ging. Das war wirklich eine schwere Zeit, aber wir haben sie überlebt. Aber jetzt, mit etwas Abstand, kann ich beim besten Willen nicht mehr sagen, wie. Und heute würde ich das auch nicht mehr schaffen. Ich erinnere mich, es gab Zeiten, da konnte ich an meinen Büchern nur nachts schreiben. Abends war ich so müde, dass ich schlafen wollte. Aber ich verabreichte mir eine Dusche mit eiskaltem Wasser und ging arbeiten. Heute würde ich das nicht mehr schaffen. Aber damals war es so, dass ich mir gesagt habe, ich muss nur noch ein bisschen durchhalten und noch ein bisschen und noch ein bisschen – und dann kamen endlich die ersten Erfolge im Ausland, die mich gerettet haben.

LE 2019 jährt sich zum 30. Mal die Samtene Revolution. Es ist ein starker Kontrast – diese Hoffnung und Zuversicht damals und Frust, Aggression, Abschottung heute. Wie erklären Sie sich das?

Dahinter steckt die Vorstellung, es gäbe ein Schicksalsdatum. Aber der Charakter der Menschen ändert sich nicht. Es ändern sich nur die Gegebenheiten und ob sie der Mensch nutzt oder nicht nutzt, ist ganz seine Sache. Ich vereinfache jetzt, aber dieser frühere Ostblock hat überall die gleiche Mentalität und es stellt sich die Frage, warum. Für mich ist klar, dass es mehrere Generationen braucht, damit sich daran etwas ändert. Es ist gerade auch gut an Ostdeutschland zu sehen, dieses soziologische Experiment, ein Volk zu teilen und zu verfolgen, wie es sich dann entwickelt. Der Westen hat, wenn auch mit großen Problemen, dennoch die Vergangenheit bearbeitet. In Ostdeutschland dagegen ist das nicht passiert. Gleichzeitig hatte auch ich 1989 große Hoffnungen und Idealismus. Aber es hing immer in der Luft, dass es von außen kommt – aus dem Westen oder woher auch immer. Und der Westen hat uns ja auch nur eine bestimmte Vorstellung vom Leben vermittelt, nämlich seine. Leider ist das, was an der Demokratie grundlegend ist und woran man ständig arbeiten muss, nicht sichtbar. Wir dagegen haben nur den Konsum übernommen und dann waren die Menschen auf einmal frustriert und schockiert und das führt zu Lethargie. Davon handelt übrigens mein neues Buch auf Tschechisch „Stunden aus Blei“: Wenn es keine Zivilgesellschaft auf allen Ebenen gibt, in der die Menschen gemeinsam etwas unternehmen, in Vereinen, Initiativen, dann verfallen sie in Lethargie. Dann kehrt das Gesetz des Dschungels zurück: Der Stärkere vernichtet den Schwächeren und die Menschen haben das Gefühl, dass sie nichts beeinflussen.

Wenn Sie sechs Jahre erst im nationalsozialistischen Gefängnis und dann noch 40 Jahre im kommunistischen Gefängnis zubringen, und dann entlassen werden, sind Sie frustriert. Jetzt wollen Sie möglichst alles auf einmal haben. Jetzt soll es nur um mich gehen. So ist das auch mit Völkern.

LE Ich frage jetzt nicht nach dem nächsten Roman, wie es die Verlage tun.

Aber nein, das können Sie ruhig.

LE Dann erzählen Sie bitte.

Bei der Arbeit an meinem letzten Buch ist mir klar geworden, dass viele Probleme, die wir heute haben, im 19. Jahrhundert angelegt sind. Ich möchte eine parallele Geschichte des 19. und 21. Jahrhunderts schreiben. Das 19. Jahrhundert hat uns mit dem Thema Nation regelrecht überwuchert.  Das wird sehr viel Arbeit, auf die ich mich schon sehr freue. Ich habe ein Stipendium für ein Arbeitsaufenthalt in New York – dort werde ich das dann schreiben. Aber so richtig will ich gerade gar nicht weg aus Europa. Es ist sehr spannend, wohin sich diese Unordnung entwickelt.

 

Radka Denemarková wurde 1968 geboren und wuchs in Kolín auf. Seit ihrem achten Lebensjahr erhielt sie Privatunterricht in Deutsch. Sie betrachtet Deutsch als ihre zweite Muttersprache. Sie studierte Germanistik und Bohemistik, seit 2004 ist sie freischaffende Schriftstellerin. Ihr Werk umfasst bisher 16 Bücher und 20 Bühnenstücke. Zugleich übersetzt sie deutsche Literatur u.a. von Herta Müller und Thomas Bernhard. Als bisher einzige Autorin erhielt sie in Tschechien dreimal den wichtigsten Literatur-Preis in drei verschiedenen Kategorien, für „Ein herrlicher Flecken Erde“ (beste Prosa), „Tod, Du wirst Dich nicht fürchten“ (ein Sachbuch über den Regisseur Petr Lébl) sowie die Übersetzung von Herta Müllers „Atemschaukel“ (beste Übersetzung). In Deutschland wurde sie für „Ein herrlicher Flecken Erde“ mit dem Usedom Literaturpreis (2011) und dem Georg-Dehio-Buchpreis (2012) ausgezeichnet. Im Februar erschienen fast gleichzeitig ihre zweites Buch auf Deutsch („Ein Beitrag zur Geschichte der Freude“) und ihr neuestes Buch („Stunden aus Blei“). Denemarková lebt mit ihren Kindern Ester und Jan in Prag.


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