Böhmische Folklore in einem Neuköllner Hinterhof: Comenius-Busch, Blechbläser und Herrnhuter Stern. / Foto: Peggy Lohse

Aktuell sträubt sich Tschechien, Flüchtlinge aufzunehmen. Vor 300 Jahren flohen protestantische Böhmen vor Verfolgung aus ihrer Heimat. Im Berliner Multikulti-Bezirk Neukölln sind ihre Spuren bis heute sichtbar: im idyllischen Böhmisch-Rixdorf (Český Ryksdorf).

Unscheinbare Holztore, schmale Fußwege und alte Kopfsteinpflasterstraßen führen zwischen den belebten Berliner Stadtmagistralen Karl-Marx-Straße und Sonnenallee hinein in eine heimelige Dorfwelt mit flachen Bauernhäusern, von wildem Wein und Efeu überwucherten Gartenzäunen und verwinkelten Hinterhöfen sowie eigenem Gottesacker: das Böhmische Dorf im Bezirk Neukölln-Rixdorf.

„Flüchtlingswelle“ aus Böhmen

Pavel Vejprachtický kam 1737 mit Frau und vier Kindern aus dem böhmischen Čermná (heute Bezirk Pardubice) nach Preußen. Hunderte protestantische Familien aus Böhmen und Mähren waren da bereits vor der brutalen Gegenreformation in ihrer Heimat geflohen. In Sachsen konnten sie zunächst Zuflucht bei Graf Zinsendorf finden, der sie gar den Ort Herrnhut in der Oberlausitz gründen ließ. Doch bald konnten und wollten die Lausitzer keine böhmischen Flüchtlinge mehr aufnehmen. Die Neuankömmlinge mussten weiterziehen. 

Der preußische König Friedrich Wilhelm I. brauchte derweil dringend arbeitsfähige Menschen. Seit dem Dreißigjährigen Krieg fehlten ihm mehrere Generationen an Bauern und Handwerkern. Und die Böhmen waren traditionell in der Textilverarbeitung geschickt. Also kaufte der König Land bei Rixdorf an, damals noch weit vor den Toren Berlins gelegen. Er ließ zunächst neun Doppelhäuser für insgesamt 18 Familien errichten und bot ledigen jungen Leuten Unterkunft in kleineren Dachwohnungen an. 

Blick in Berlins Böhmisches Dorf / Foto: Peggy Lohse

Am 12. Juni 1737 kamen die ersten böhmischen Flüchtlinge. Die meisten aus Čermná, heute Bezirk Pardubice. Wie Pavel Vejprachtický, der mit 32 Jahren zum ersten Dorfschulzen (Zivilrichter) von Böhmisch-Rixdorf gewählt wurde und fast 40 Jahre im Amt bleiben sollte. Seine Frau starb früh. Seine zweite Frau Dorota war ebenfalls Geflüchtete, aber im Unterschied zu vielen anderen ursprünglich aus einer katholischen Familie. Nachdem jedoch ihre Eltern gestorben waren, als sie gerade 15 Jahre alt war, kam sie zu ihrer Tante. Dort lernte sie Lesen und Schreiben,  und wurde kritisch, wie sie in ihrem Lebenslauf schreibt: „Später erkannte ich, dass meine Eltern nicht weiter fragten, weil sie vor den päpstlichen Priestern große Angst hatten.“ In ihren Zweifeln entschied sie sich zur Flucht mit den Protestanten.

Vejprachtický und sein böhmischer Freund Adam Krystek, der mit derselben Gruppe 1737 geflohen war, holten noch mehrmals als Fluchthelfer weitere böhmische Familien aus ihrer Heimatregion nach Rixdorf. „1741 kriegte ich einen starken Trieb nach Böhmen zu gehen und konnte denselben nicht loswerden“, schreibt Krystek dazu in seinem Lebenslauf, „Ich entdeckte es meinem getreuen Paul Wegprachtizky, und er sagte: Ihm wäre es auch so, und wenn es Gottes Wille ist, so würde es auch geschehen. Wir gingen dann 1742 (…)  hinein und brachten 66 Seelen zu unserer großen Freude heraus.“

Konflikte und Integration 

Der preußische König Friedrich Wilhelm I. brauchte nach dem Dreißigjährigen Krieg dringend arbeitsfähige Menschen. Darum nahm er nicht nur Hugenotten aus Frankreich, sondern auch protestantische Flüchtlinge aus Böhmen in Preußen auf. Sein Denkmal in Neukölln-Rixdorf überlebte selbst das 20. Jahrhundert. / Foto: Peggy Lohse

Zum ersten eigenen Gottesdienst der Böhmen im September 1737 in der Rixdorfer Kirche kamen auch Nachbarn. Prediger Schulz erinnert sich später: „Bei meiner ersten Predigt in Rixdorf fanden sich derselben viele deutsche Bauern ein. Ich hielt daher den Eingang in deutscher Sprache, und bat sodann die Deutschen, die Kirche zu verlassen und den Böhmen Platz zu machen, da sie ja doch nichts von meinem böhmischen Vortrag verstehen könnten. Die Deutschen wurden nun neugierig.“

Bald lebten neben 100 Ur-Rixdorfern schon 300 böhmische Flüchtlinge, die einige Privilegien genossen: zwei Jahre pachtfreies Wohnen, Steuerfreiheit, Befreiung von der Wehrpflicht, Religionsfreiheit. Und natürlich waren die Einheimischen neidisch auf diese Vorzüge. 

Die Neuankömmlinge selbst mussten hart arbeiten, denn der Sandboden schenkte ihnen selten eine reiche Ernte. Es schufteten alle, Männer wie Frauen und Jugendliche. Nur Kleinkinder blieben oft zuhause, wobei sie aus Langeweile wohl immer wieder Blödsinn in den Vorgärten der Deutschen anstellten. Da aber die Bildung – im Sinne des böhmischen evangelischen Philosophen Johann Amos Comenius (Komenský): „Jeder soll Bildung haben!“ – für die Böhmen im Vordergrund stand, sollte bald Abhilfe geschaffen werden: und zwar in Form von ganztägigen Lehranstalten: Die Jungen wurden ab 1753 im großen Schulgebäude unterrichtet, die Mädchen in Scheunen. Der Schulunterricht lief zweisprachig ab. Außerdem wurde das Textilhandwerk gelehrt. Bis 1909 bestand die Schule. Im Museum im Böhmischen Dorf, das heute zwei Räume des alten Lehrgebäudes schmückt, sind unter den vielen privaten Exponaten auch Schulbilder zu finden. Allerdings nur gestellte Klassenbilder der Mädchenklassen und Vorschulgruppen.

Mit der Ganztagsbetreuung der Kinder waren die Konflikte zwischen den Einheimischen und Zugewanderten jedoch nur bedingt gelöst, wie eine Legende besagt. „Nach Ankunft der böhmischen Einwanderer gab es immer wieder handgreifliche Auseinandersetzungen zwischen Deutsch- und Böhmisch-Rixdorfern. Darum setzten sich die zwei Bürgermeister zusammen, um nach einer Lösung zu suchen. Um die Aggression der Leute in geordnete Bahnen zu lenken, führten sie Wettkämpfe im Strohballenrollen ein“, erzählt Susanne Lehmann vom Museum im Böhmischen Dorf. Diese Legende ist nicht historisch belegt, aber doch immerhin so beliebt, dass es das Strohballenrollen bis heute gibt. Jedes Jahr im Herbst messen sich Deutsche und auch tschechische Teams aus der Neuköllner Partnerstadt Ústí nad Orlicí, zu deren Kreis auch Čermná gehört, in dieser Disziplin. Bisher hätten immer Tschechen gewonnen, so Lehmann. Womöglich weil sie zuhause am Berg trainierten, während in Berlin alles flach ist. 

Lehmanns Großmutter stammte auch aus einer Einwandererfamilie aus Čermna, sie selbst ist Mitglied der Brüdergemeinde. Dort entstand auch einst die Museumsidee: Eine kleine Gruppe engagierter Frauen um Beate Motel und Cordelia Polinna entschloss sich, 2005 das Heimatmuseum zu eröffnen. Sie gründeten dafür einen Verein und sammelten allerlei persönliche Erbstücke. 

Lebenswege und ihre Zeugnisse   

Die Lebensläufe der Brüdergemeinde-Mitglieder geben Auskunft darüber, wie es den böhmischen Flüchtlingen und ihren Nachkommen im Laufe der Jahrhunderte erging. / Foto: Peggy Lohse

Über das schriftliche Gedächtnis des Böhmischen Dorfes wacht derweil Stefan Butt. Er betreut das Archiv im Böhmischen Dorf, untergebracht in einer kleinen Einraumwohnung im Erdgeschoss eines Plattenbaus am Rande des historischen Dorfs. Von seinem Balkon aus sieht man die Kirchgasse und die Spitzdächer der Bauernhäuser. Die ursprünglichen Gebäude für die Flüchtlinge standen alle mit dem Giebel zur Straße. Heute ist davon nur noch eines übrig, die übrigen haben Brände und Witterung dahingerafft. Die neuen stehen mit der Wandseite zur Straße, um mehr Platz in den Innenhöfen zu schaffen. Am linken Dorfende überragt das älteste Haus, das ehemalige Schulgebäude, das Dorf. Bald soll das Archiv dort beim Museum einziehen. Auch, damit die beiden bislang getrennten Vereine Museum und Archiv sich näher kommen, womöglich in Zukunft einmal zusammengehen.

Die Geschichte der Böhmen in Neukölln kann heute nur noch so gut – und zwar besser als in anderen Siedlungsorten – nachvollzogen werden, weil die Evangelische Brüdergemeinde die Tradition der Lebensläufe bis heute erhält. Wenn ein Gemeindemitglied verstirbt, schließt sich an die Beerdigung ein sogenanntes „Liebesmahl“ an, wo bei Kaffee und Kuchen jene Lebensläufe der Verstorbenen selbst oder ihr nahe stehender Menschen über sie verlesen werden. Im Mittelpunkt dieser biografischen „Erbauungsschriften“ steht traditionell der Weg zum Glauben. Aber geografische und persönliche Details lassen auch immer wieder auf das Leben und den Alltag jener Zeiten schließen. Archivar Butt sammelt, digitalisiert und analysiert diese Lebensläufe. 

Archivar Stefan Butt unterwegs in „seinem“ Böhmischen Dorf. / Foto: Peggy LohseButt ist eigentlich Designer, aber „Stadtteilgeschichte und Archivwesen waren immer schon meine Hobbys“. Seit fünf Jahren rettet, ordnet, erhält und schützt er nun das Archiv des Böhmischen Dorfes. Im vorigen Jahr trat er selbst der Brüdergemeinde bei. „Vor allem durch die Lebensläufe habe ich Zugang zu so intimen Bereichen der Menschen hier, dass es für mich eine Frage des Vertrauens war, auch selbst Gemeindemitglied zu werden.“

Über 500 Lebensläufe aus bald drei Jahrhunderten liegen bei ihm, darunter auch die der Böhmen, teils noch in tschechischer Sprache. Auch die zeitgenössischen Texte kommen zu ihm – nachdem sie zehn Jahre nach Versterben des Autors im Gemeindebüro gelegen haben. Außerdem hilft er älteren Menschen beim Verfassen. Und der eigene? „Ja, der entsteht schon im Kopf“, lacht Butt. „Ich denke, den schreibe ich dann einmal einfach runter, wenn ich Zeit habe.“ 

Die Lebensläufe zeigen auch: Die Brüdergemeinde lebte lange als Kommunität. Das Gleichheitsgebot hatte Priorität. Während die Kinder in der Schulgemeinschaft lebten, arbeiteten Frauen wie ihre Männer und konnten auch hohe Kirchenämter einnehmen. Erst mit dem Tod Zinsendorfs Ende des 18. Jahrhunderts wurden viele Freiheiten zurückgenommen, angeblich um nicht zur Sekte erklärt zu werden. Denn nach ihrer langen Verfolgungsgeschichte wollten die böhmischen Gläubigen vor allem eines: anerkannt werden. Das haben sie erreicht, opferten dafür jedoch ihre progressiven Ansichten. Heute sind sie als einzige Glaubensgemeinschaft Teil der evangelischen Landeskirche und der Freikirchen. 

Das zeigt auch der zweite wichtige Ort im Dorf für Butt: der Böhmische Gottesacker, direkt an der heute hektischen Karl-Marx-Straße gelegen. Die eine Hälfte ist mittlerweile ein moderner Friedhof, auf der anderen wird noch nach Tradition der böhmischen Brüder beerdigt: mit einer Grabplatte flach auf dem Boden, das Gleichheitsgebot einhaltend. Frauen- und Männer-Reihen wechseln sich ab. An der Innenseite der Friedhofsmauer hängen Platten aus dem 18. und 19. Jahrhundert. Unter einem kleinen Dach, damit die Witterung die Sandsteinplatten nicht weiter zerfrisst. Die ältesten sind auf Tschechisch beschrieben, erst jüngere deutsch. 

Der Eingang zum „Böhmischen Gottesacker“ in Berlin-Neukölln heute. / Foto: Peggy Lohse

Widerstand und Folklore

Vor dem Museum steht bis heute Friedrich Wilhelm I. Sein Denkmal ist unterschrieben mit „Die dankbaren Nachkommen der hier aufgenommenen Böhmen“. Stefan Butt kennt auch dazu eine spannende Geschichte: „Am Ende des Zweiten Weltkrieges sollte es eingeschmolzen werden, weil das Metall gebraucht wurde. Aber da schrieen die Menschen hier: ‚Nein, wir sind doch verfolgte Sudeten!‘ Das Denkmal blieb stehen. Nach dem Krieg kamen die Russen und wollten es einschmelzen. Da schrieen die Leute: ‚Nein, wir sind doch ein slawisches Brudervolk!‘ Das Denkmal blieb wieder stehen.“ 2012 wurde es 100 Jahre alt, die Gefahr scheint gebannt. 

Parallel zum jährlichen Alt-Rixdorfer Weihnachtsmarkt fand 2018 auch schon zum zweiten Mal ein eigener Böhmischer Weihnachtsmarkt am Denkmal statt. Mit Gästen aus Čermná und traditionellen Glaskugeln und Gebäck. Außerdem ist die Partnerschaft Neuköllns und der Kreisstadt Ústí nad Orlicí jeweils bei ihren Stadtfesten präsent. Eine symbolträchtige Partnerschaft, meint Butt, denn: „Der Vertrag ist drei Tage vor dem Berliner Mauerfall unterschrieben worden!“

Die Familie Weihpratizky, wie ihr Nachname im Laufe der Jahrhunderte eingedeutscht wurde, verschlug es über Berlin-Köpenick letztlich in den Westen, nach Furtwangen im Schwarzwald. Ihre Chronik verfasste Michael Weihpratizky, der als einziger Nachfahre bisher noch einmal den Kreis schloss und 1990 mit seiner Familie wieder nach Berlin kam. Er verstarb Anfang Dezember 2018, wurde aber in Furtwangen beerdigt. 

Der letzte Tschechisch-Muttersprachler im Böhmischen Dorf verstarb in den 1980er Jahren. Heute leben noch 60 Nachfahren böhmischer Flüchtlinge im Böhmischen Dorf, die die denkmalgeschützten Gebäude vor allem gegen übergriffige Immobilieninvestoren verteidigen müssen. Die tschechischen Traditionen sind derweil weitestgehend verlorengegangen, wenn sie nicht wie Lebensläufe oder Bestattungen Teil der Bräuche der Brüdergemeinde geworden sind. Die Integration ist abgeschlossen, die Geschichte der Geflüchteten nun Sache fürs Museum und Archiv.

Vor dem Museum steht bis heute Friedrich Wilhelm I. Sein Denkmal ist unterschrieben mit „Die dankbaren Nachkommen der hier aufgenommenen Böhmen“. / Foto: Peggy Lohse 

Museum im Böhmischen Dorf

Kirchgasse 5

12043 Berlin-Neukölln

Öffnungszeiten:

donnerstags 14 bis 17 Uhr 

sowie

jeden 1. und 3. Sonntag im Monat von 12 bis 14 Uhr

Eintritt: 3 Euro


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