Ursel Scheffler hat mit ihrem Projekt „Büchertürme“ einen neuen Weg gefunden, junge Leser für Bücher zu begeistern. Aus Hamburg verbreitete sich ihre Idee über ganz Deutschland und ist mittlerweile auch in anderen Ländern angekommen. Auch die Schüler der Deutschen Schule Prag haben mitgemacht. Die Autorin besuchte die Schule für eine Lesung und sprach mit dem LandesEcho über das Projekt, Bücher für Kinder und die Begeisterung für das Lesen.
LE: Worum geht es bei Ihrem Projekt „Büchertürme“?
Wir wollen das Buch wiederbeleben! Es geht darum, dass die Schulen in der Pisa-Studie sehr schlecht abgeschnitten haben, vor allem die deutschen. Dann habe ich einen Artikel mit der Überschrift „Schanghai liest besser als Hamburg“ gesehen und mir gedacht: „Die Kinder dort müssen dreitausend Zeichen lernen und hier nur 26, das kann es ja nicht sein.“ Also habe ich das Projekt „Kinder, lest Euch auf den Michel“ gestartet, denn das ist das Hamburger Wahrzeichen.
Für jedes gelesene Buch wird dabei ein Zentimeter angerechnet, zehn Zentimeter ergeben einen Baustein für den Turm, einen „Pisa“. Und jeder, der einen „Pisa“ gelesen hat, der darf sich melden und mitbauen. Der Michel hat eine Höhe von 132 Metern und alle haben gesagt, dass das nicht zu schaffen ist. Aber in sieben Monaten und mit zehn beteiligten Schulen hat das geklappt. Inzwischen wachsen schon viele Büchertürme in Deutschland und nicht nur dort. In Warschau ist schon gelesen worden, in Barcelona, in Wien und jetzt auch in Prag.
LE: Glauben Sie, dass das Buch in einer überdigitalisierten Welt noch eine Chance hat?
Ich glaube schon. Kein Mensch kann in die Zukunft schauen. Wir wissen ja auch nicht, wie lang etwas in der digitalen Welt hält, die ist so schnell. Irgendwann ist die Technik überholt und dann gibt´s keine Kassetten mehr, dann gibt´s keine CDs mehr und irgendwann gibt´s vielleicht keine Festplatten mehr. Ein Buch hab‘ ich! Das löscht sich nicht, das bleibt da.
LE: Wie motiviert man Kinder denn dazu, Bücher zu lesen?
Das wichtige ist, dass man Kindern Ziele vorgibt, dass man sagt „Da wollen wir hin“ und man den Weg dann auch gemeinsam schafft. Das Wir-Gefühl ist dabei wie in einer Fußballmannschaft, das Team zählt. Das kommt auch ganz gut bei den Kindern an. Sie sind motiviert durch den Wettbewerb und dann auch die digitale Komponente, bei der man Punkte sammelt auf der Webseite. Die Kinder spielen gerne Computerspiele und das kann man doch für das Lesen nutzen!
Und was noch zu sagen ist: Kinder lesen Bücher mehrfach, weil sie ja beim Lesen nicht gleich alles verstehen und dann auch die Bilder lieben oder die Personen, die darin vorkommen. Dann denke ich, dass das Buch was Wertiges hat für sie. Das ist vielleicht ein schöner Gegenpol zu den Medien, die immer schneller werden. Im Fernsehen werden die Frequenzen immer schneller, die Kinder können kaum verweilen. Das hat keine Seele mehr. Es gibt ein paar schöne tschechische Filme, wo man noch ausinszeniert hat, da denke ich, dass der Markt hier vielleicht noch besser ist.
LE: Was ist denn für Sie das Herausforderndste beim Schreiben für Kinder?
Also erstmal fängt es immer bei mir so an, dass ich eine Situation haben muss. Zum Beispiel habe ich ein Buch geschrieben, als ich 2015 ein Flüchtlingslager besuchte. Da dachte ich: Die Kinder sind jetzt in unseren Klassen und die anderen Kinder müssen verstehen, was die für Probleme haben, dass sie zum Teil traumatisiert sind. Und dann habe ich solche Bilder gezeigt und gesagt: „Siehste, das ist Hamburg nach dem Krieg und das sieht aus wie Aleppo jetzt.“ Das haben sie verstanden. Und dann habe ich zu den Flüchtlingskindern gesagt: „Und guck Mal, wie Hamburg jetzt aussieht, also es gibt Hoffnung, dass es wieder Frieden gibt“.
LE: Haben Sie bei Lesungen in Warschau oder Prag einen Unterschied bemerkt bei den kleinen Zuhörern im Gegensatz zu Hamburg?
Also ich bin ja hier auf einer Insel. Und ich war in Warschau auch bei den deutschsprachigen Botschaftskindern. Ich war in Kuala Lumpur, in Hong Kong, in Washington auch in deutschen Schulen und das ist ein Inselhopping. Es sind ähnliche Kinder, auch weil sie alle berufstätige Eltern haben. Während ich in Hamburg in schwierige Ecken komme mit 85 Prozent Ausländeranteil und zum Teil nicht alphabetisierten Eltern, Alkoholikern, Drogenmenschen und da ist es schwierig. Aber da habe ich die tollsten Lehrer getroffen. Die sich auf großartige Weise um die Kinder kümmern. Es gibt auch viel ehrenamtliche Arbeit, die im Leisen passiert. Zum Beispiel eine „Mama-liest“-Gruppe im Hafen. Da kümmert sich jemand um die Mütter, die nicht alphabetisiert sind und bringt ihnen Deutsch bei, während ihre Kinder in der Schule sind. Man hört immer nur die Lauten, die Schreien und auf Demos gehen und gegen Ausländer sind oder für oder wie oder was. Und dabei gibt‘s so viele Menschen, die ganz ganz toll sind. Und drum müssen die Leisen wieder lauter werden. Man muss über das Gute berichten, was passiert.
Das Gespräch führte Tomáš Randýsek.
Ursel Scheffler
- Geboren am 29. Juli 1938 in Nürnberg
- Studierte Romanistik und Anglistik in Erlangen und München, Magisterarbeit über das französische Märchen
- Lebt und arbeitet seit 1977 in Hamburg
- Autorin von etwa 400 Kinderbüchern, die in über 30 Sprachen übersetzt wurden
- Auf www.büchertürme.de gibt es alle Informationen zum „Büchertürme“-Projekt. Dort kann man auch neue Büchertürme anmelden und ihren Bau verfolgen.
- Auf www.bücherbrücken.de entsteht eine Sammlung von Büchern und Texten in verschiedenen Sprachen.
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