Über dem 25. Jahrestag der „Samtrevolution“ liegt der Mehltau der Unzufriedenheit mit den heutigen Politikern und den Ergebnissen nach 1989. Erwartungsfroh zeigt sich Prag am Morgen des 17. November. Hunderte ziehen schon zeitig zur Nationalstraße. Zu einem schmalen Häuserdurchgang, wo sie unter einer Gedenktafel Blumen niederlegen und Kerzen anzünden. Es ist jene Stelle, an der vor genau 25 Jahren kommunistische Polizei und Staatssicherheit eine Studentendemonstration brutal zusammengeknüppelt hat.
Jene Demonstration, die eigentlich von den Nationalsozialisten ermordeten Studenten galt und dann umschwenkte in eine Demo gegen das Regime. Diese Demonstration der Studenten läutete das Ende der kommunistischen Herrschaft in der Tschechoslowakei ein.
Viele derjenigen, die ihre Kerzen angezündet haben, versammeln sich danach an der Ecke der Nationalstraße, wo das einst kommunistische Vorzeige-Kaufhaus „Mai“ (Máj) auch an diesem Feiertag geöffnet hat. Um 11 Uhr fängt die Menge an zu murren. Pfiffe ertönen. Dicht gedrängt stehen mittlerweile ein paar tausend Menschen dort, halten eine Rote Karte in der Hand und warten auf das vereinbarte Zeichen mit der Trillerpfeife. Der Organisator bittet um zehn Minuten Geduld. Das Fernsehen sendet zur vollen Stunde die Nachrichten und die Aktion soll anschließend live über die Bildschirme gehen. Zehn nach 11 recken sich dann tausende Arme in Luft, schwenken die roten Karten. Bestimmt sind sie für den jetzigen tschechischen Präsidenten Miloš Zeman. Die Leute, die sich über eine Facebook-Aktion an diesem Montag in der Nationalstraße versammelt haben, sind gefrustet von ihrem Staatsoberhaupt. Mal äußert er sich im Radio vulgär wie in einer Kneipe der untersten Preisklasse. Vor Tagen lobte er in China das dortige Regime, wollte da angeblich lernen, wie man wirtschaftlichen Aufschwung und Demokratie hinbekommt. Am Vorabend des 17. November spielte er den brutalen Einsatz von Polizei und Stasi gegen die Studenten vor 25 Jahren herunter. So schlimm sei das alles nicht gewesen. Da musste selbst Premier Bohuslav Sobotka in einer Fernsehdebatte mit seinem slowakischen Kollegen Robert Fico energisch widersprechen.
„Es reicht langsam“, sagt eine junge Mutter in der Menge, die ihren Sprössling auf der Schulter trägt. „Dieser Präsident, der nie der meine war, ist eine Schande.“ Viele denken wie sie. Und sie vergleichen. Der, denen ihre Achtung bis heute gehört, kann den 25. Jahrestag der „Samtrevolution“ leider nicht mehr mitfeiern: Václav Havel. Aber virtuell ist der Führer der Revolution bei ihnen: von einem überdimensionalen Foto am tschechischen Nationalmuseum oberhalb des Wenzelsplatzes blickt er auf seine Landeskinder. „Havel – für immer“ steht auf dem Foto. Vor fünf Jahren war er noch beim feierlichen Erinnern dabei. Sang mit Lou Reed dessen Hit „Perfect day“. Wie soll man den 25. Jahrestag feiern, fragte dieser Tage ein Kommentator in der „Hospodářské noviny“ – und empfahl, entweder zuhause diesen Titel auf den Plattenteller zu legen, oder gegen die heutigen Machthaber auf die Straße zu gehen. Es haben sich dem Eindruck nach mehr für die zweite Variante entschieden.
Der Protest ist natürlich ernst gemeint. Aber er ist auch witzig und lustig. Eben so, wie Tschechen zu demonstrieren gewöhnt sind. Mit selbst gebastelten Transparenten aus den morschen Böden von Bananenkisten etwa, die gerade so die Demo über durchhalten. „Miloše do koše!“ heißt es da unter anderem. Der Reim bezieht sich auf Miloš Zeman und bedeutet übersetzt: „Miloš in den Abfallkorb!“.
Beinahe wären die Tschechen (mit den Slowaken) die letzten gewesen, die sich im „Wende“-Jahr 1989 ihrer altstalinistischen Herrscher in Mittel-Osteuropa entledigt hätten. Es bedurfte eines Anstoßes aus der benachbarten DDR, die man ansonsten gern belächelte. Als die DeDeRonis – wie man sie spöttisch in Anspielung auf den DDR-Nylon-Ersatz Dederon nannte – in Massen Ende September 1989 mit ihren Trabis die Moldaustadt fluteten und sich zu Fuß in die bundesdeutsche Botschaft aufmachten, um so in die Freiheit zu gelangen, dämmerte es auch den Einheimischen. Die hatten zwar auch immer mal demonstriert. Etwa im Januar 1989 bei der „Palach-Woche“, die an die grausame Selbstverbrennung des Studenten Jan Palach 1969 erinnerte, der damit ein Fanal gegen die Gleichgültigkeit der Menschen nach dem gewaltsamen Ende des Prager Frühlings setzen wollte. Anfang November gingen tausende Menschen in Teplice (Teplitz-Schönau) auf die Straße, um gegen die unerträgliche Luftverschmutzung in ihrer nordböhmischen Kohleregion zu protestieren. Doch erst eine Demonstration von Studenten am 17. November in Prag brachte dann in wenigen Tagen das Aus für das Regime.
Der Honecker von Prag, KP-Generalsekretär Milouš Jakeš, hat dieser Tage in einem langen Interview der „chinesischen Lösung“ nachgetrauert, dem Einsatz von Panzern gegen den Protest auf dem „Platz des Himmlischen Friedens“ in Peking. Dort sei danach „Ruhe gewesen“. Eine solche Lösung wäre jedoch in der Tschechoslowakei nicht denkbar gewesen, fügte Jakeš mit 25 Jahren Abstand immer noch bedauernd hinzu. Jakeš sprach zudem erneut davon, dass der „Umsturz“ vom tschechoslowakischen Geheimdienst und dem russischen KGB gelenkt worden sei, um irgendwelche Reformer an die Macht zu bringen.
Das ist eine Variante der Geschehnisse, die immer wieder kolportiert wird. Folgt man Ex-Präsident Václav Klaus, dann waren es die „einfachen Leute“, die mit ihrer „Passivität“ das Regime letztlich zum Einsturz brachten. Klaus erzählt das, um die Rolle der Dissidenten um Havel möglichst zu schmälern. Logisch – er gehörte nicht zu den Dissidenten, wurde erst von denen gerufen, als es um Wirtschaftsfragen ging.
Fakt ist, dass die Studenten mit ihrer Demonstration am 17. November schnell Nachahmer fanden. Künstler, vor allem die Schauspieler, schlossen sich ihnen an, riefen abends von den Bühnen zum Ende der KP-Herrschaft auf. Am 25.November trat die alte Garde ab. Doch die Dissidenten um Havel, die in der „Laterna magica“ oder im „Schauspielklub“ tagten, nannten das eine „unzureichende kosmetische Operation“. Unterstützung erhielten die Demonstranten am 27. November von tausenden Gläubigen und von Kardinal František Tomášek im überfüllten Prager Veits-Dom. Am selben Tag legte ein zweistündiger Generalstreik das Land lahm und zeigte der KP-Führung, dass ihre Stunden gezählt waren. Am selben Tag noch trafen sich die Dissidenten um Havel mit dem kommunistischen Regierungschef Adamec erstmals, um die Lage zu diskutieren. Der Manöverraum der KP wurde enger und enger.
Am 11. Dezember ernannte der kommunistische Präsident Gustáv Husák eine neue Regierung, in der erstmals auch Vertreter des revolutionären „Bürgerforums“ um Havel vertreten waren. Damit saßen dort auch Leute, die bis vor Tagen ihre Zeit noch in Gefängnissen hatten zubringen müssen. Auf den Straßen ertönten die Rufe „Havel auf die Burg“. Am 29. Dezember wählte dann das noch immer kommunistische beherrschte Parlament den einstigen Staatsfeind Nr.1, Václav Havel, zum ersten Mann im Staate. Die lange auf sich wartend lassende Revolution, die dann doch in Windeseile über die Bühne ging, hatte sich an diesem Tag zu einem „böhmischen Märchen“ vollendet. Die Tschechoslowakei war wieder auf dem Weg „zurück nach Europa“, auf dem Weg zurück zu einem demokratischen Land. Das ist es bis heute, in EU und Nato integriert.
Doch so wahnsinnig zufrieden sind die Tschechen heute dennoch nicht. Umfragen zeigen, dass sie sich von der Revolution mehr versprochen hatten. Doch hinter denen Erwartungen habe auch viel Naivität gesteckt, meint die Tageszeitung „Lidové noviny“: „Um die Desillusionierung heute zu verstehen, müssen wir die Träume von 1989 begreifen. Das Volk war sich damals nicht darin einig, was es möchte, sondern nur in dem, was es ablehnte – die alten Zustände.“
Am Montag wurde protestiert und trotzdem gefeiert. Auch die Präsidenten aus Mittel-Osteuropa, darunter Joachim Gauck, wurden Zeugen eines massiven Protests gegen das tschechische Staatsoberhaupt Miloš Zeman, der mit einem gellenden Pfeifkonzert und Sprechchören, die ihn zum Rücktritt aufforderten, an dem Platz empfangen wurde, an dem vor 25 Jahren die Studentendemonstration begonnen hatte. Zeman konnte kaum seine Rede zu Ende führen. Die ausländischen Redner, unter ihnen Gauck, wurden dagegen bejubelt.
Am Abend sollte in Sichtweite des Havel-Fotos bei einem Konzert mit Protagonisten von 1989 der Wenzelsplatz „gerockt“ werden. Havel, der nicht nur Lou Reed liebte, sondern auch Frank Zappa und die Stones, hätte seine helle Freude an diesem Ausdruck der Freiheit gehabt. Aber virtuell war er ja auch irgendwie dabei.
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