1907 fand in Stuttgart der „Internationale Sozialistenkongress“ statt, an dem auch Sozialdemokraten aus Mähren teilnahmen.
886 Delegierte aus „allen fünf Erdteilen“ kamen zwischen dem 19. und 24. August 1907 in Stuttgart zusammen. Die größte Abgesandten-Delegation kam aus Deutschland, gefolgt von 123 Abgeordneten aus Großbritannien, die drittgrößte Anzahl Delegierter schickte Österreich-Ungarn. Argentinien, die USA, Polen und Rumänien waren genauso vertreten wie Serbien, Südafrika und Japan.
Im wilhelminischen Berlin wäre ein solcher Kongress zu der damaligen Zeit undenkbar gewesen, so die Historiker. Bis heute dürfe man zu Recht stolz sein auf das damals liberale Württemberg, das selbst dem kaiserlichen (Un-)Willen in der Frage der Genehmigung des Kongresses trotzte ihn in Stuttgart stattfinden ließ. Die Eröffnung fand in der damaligen Liederhalle statt, der Kongress selbst tagte auf dem Cannstatter Wasen. Erstaunlich professionell wurden in Ausschüssen und Kommissionen Schwerpunktthemen der damaligen Zeit behandelt, beinahe wie Weltwirtschafts- oder Klima-Gipfel der heutigen Tage. Die Kommissionen, allesamt besetzt mit herausragenden Persönlichkeiten, beschäftigen sich eine ganze Woche lang mit den zugeordneten Aufgaben.
Der Kommission, die sich mit der Beziehung von Gewerkschaften zu sozialistischen Parteien befasste, gehörte Karl Kautsky an, der führende Theoretiker der deutschen und internationalen Sozialdemokratie. Mit Fragen der Ein- und Auswanderung von Arbeitern haben sich US- und argentinische Delegierte befasst. Information der ausreisewilligen Arbeiter über die Arbeits- und Lebensbedingungen in den Einreiseländern standen zur Diskussion wie auch internationale Regelungen zu menschenwürdigen Transportbestimmungen.
Im Rahmen dieses Kongresses wurde außerdem die erste internationale Frauenkonferenz unter der Leitung von Clara Zetkin abgehalten. Das Hauptthema war das Frauenwahlrecht.
In Stuttgart befand sich auch seit 1881 das Verlagshaus Johann Heinrich Wilhelm Dietz. Dietz, der bis 1933 Weltruf genoss, betreute den literarischen Nachlass von Karl Marx und Friedrich Engels und verlegte die Werke sozialdemokratischer Schriftsteller. Während des Sozialistengesetzes, aber auch danach organisierte er den Vertrieb sozialistischer Literatur in Deutschland.
Als Dietz eine politische Frauenzeitschrift gründete, konnte er als Chefredakteurin Clara Zetkin gewinnen. Clara Zetkin lebte zu dieser Zeit in Paris, nahm aber das Angebot von Dietz an und siedelte nach Stuttgart über. Von 1892-1917 erschien unter deren Leitung die Frauenzeitschrift „Die Gleichheit“.
Der Name und das Engagement von Clara Zetkin wurden erst später, zunächst von Stalin, danach auch von allen kommunistischen Machthabern jahrelang propagandistisch ausgenutzt. In Wirklichkeit war diese talentierte Frau eine Idealistin, deren soziales und intellektuelles Engagement Beachtung fand. In Stuttgart lebte Clara Zetkin in unmittelbarer Nähe von Robert Bosch und Karl Kautsky, sie freundete sich mit dem Parteigenossen und Künstler Friedrich Zundel an, den sie später heiratete.
Das Paar lebte in Sillenbuch. Clara Zetkin war u.a. maßgeblich an der Gründung des bis heute bestehenden Sillenbucher Waldheims beteiligt. Bei der Gründung wurde der Gedanke verfolgt, den unterbemittelten Arbeiterschichten, die in unvorstellbar armen, ja gesundheitsschädlichen Verhältnissen lebten, einen Platz zu schaffen, an dem sie an ihren freien Tagen der häuslichen Armut entfliehen und sich im Kreise der Familie und Freunde in frischer Luft erholen konnten.
Das Haus von Friedrich Zundel und Clara Zetkin in Sillenbuch heute. Foto: Hanna Zakhari
Robert Bosch hat übrigens gerade ein Jahr vor dem „Internationalen Sozialistenkongress“ in seinen Betrieben den Acht-Stunden-Arbeitstag eingeführt. Dies brachte ihm den Spottnamen „der rote Bosch“ ein.
Clara Zetkin bekannte sich später zur USDP und danach zu der 1919 gegründeten KPD. Als deren Repräsentantin wurde sie in den Deutschen Reichstag gewählt und hielt dort, als dessen Alterspräsidentin am 30. August 1932 die Eröffnungsrede. In dieser setzte sie sich leidenschaftlich für die Einheitsfront der Arbeiterparteien gegen den heraufziehenden Nationalsozialismus ein. Sie emigrierte kurze Zeit später in die UdSSR und starb dort im Juni 1933.
Übrigens – auch der Literaturnobelpreisträger George Bernhard Shaw, der erste britische Labourpremier Ramsay Mcdonald und der Gründervater der schwedischen Sozialdemokratie Hjalmar Branting gehörten zu den Teilnehmern des Kongresses in Stuttgart 1907.
Der wichtigste Themenkreis des Kongresses wurde von über 20 namhaften europäischen Sozialdemokraten angeführt, darunter von legendären Persönlichkeiten wie dem französischen Sozialistenführer Jean Jaurès, August Bebel, Rosa Luxemburg, dem Belgier Vandervelde, der später in Belgien verschiedene Ministerposten innehatte, aber auch von einem damals völlig unbekannten russischen Intellektuellen namens Lenin. Diese Kommission beschäftigte sich mit der Frage des „Militarismus und der internationalen Konflikte“. Die Schlussresolution sagt aus, daß im Falle eines drohenden Krieges Sozialdemokraten alles aufzubieten haben, „um den Ausbruch mit entsprechenden Mitteln zu verhindern…“
In dieser Kommission wirkte auch der Chef der österreichischen Delegation, Dr. Viktor Adler, mit. Dr. Adler, zuvor maßgeblich an der Erarbeitung des „Brünner Programms“ beteiligt, in dem die Sozialdemokraten das Konzept eines österreichischen Bundesstaats autonomer Völker entwarfen, brachte drei Brünner Abgeordnete mit: Matthias Eldersch, damals Abgeordneter im Reichsrat, zuvor Buchhalter und Kassensekretär der Brünner Bezirkskrankenkasse und den damals gerade 37-jährigen Brünner Rechtsanwalt Dr. Ludwig Czech mit Gattin Elisabeth.
Nach dem Kongress in Stuttgart 1907 sitzend: Dr. Czech und Frau Lilly, stehend von links: Eduard Rieger, Matthias Eldersch, Hugo Schulz.
Aufgrund der spärlichen Dokumentationen können nur ein paar Gedanken skizziert werden, mit welchen Aufgaben sich die Brünner vor 115 Jahren in Stuttgart befasst haben. Welche Strapazen der Anreise damals notwendig waren, und wie es den Brünnern insgesamt in Stuttgart, vor 115 Jahren, ergangen ist, bleibt wohl für immer im Schatten der Vergangenheit. Die Gruppe um Adler beschäftigte sich mit dem Thema eines drohenden Kriegs, Militarismus und internationalen Konflikten. Geleitet wurde diese Arbeitsgruppe damals von bedeutenden Persönlichkeiten der europäischen Sozialdemokratie, dem Franzosen Jaures, dem damaligen Vorsitzenden der deutschen Sozialdemokratie, August Bebel, und weiteren Persönlichkeiten von Weltrang. Die in diesen Tagen von den Sozialdemokraten erarbeitete Resolution endete mit einem Aufruf an alle sozialdemokratischen Parteien der Welt, alle politischen Möglichkeiten zu nutzen, um den bereits drohenden Krieg zu verhindern. Vielleicht war auch Lenin an der Formulierung der Schlussresolution beteiligt.
Schließlich haben sozialdemokratische Parteien Regierungen lange daran gehindert, in den Krieg einzutreten, nicht nur durch Demonstrationen und verschiedene zivile Taktiken. Eines der politischen Instrumente war die Sperrung von Krediten für Rüstungsgüter in den Parlamenten der europäischen Länder.
Der französische Führer der United Land Socialist Parties, einer der prominentesten Anhänger des humanistisch-pazifistisch orientierten Reformsozialismus, Jean Jaurès, setzte sich bereits am Vorabend des Ersten Weltkriegs für den Pazifismus und gegen den drohenden Krieg ein. Auf friedlichen Demonstrationen und im Parlament warb er für die politische Verständigung mit Deutschland. Dafür wurde er von der politischen Rechten gehasst. Am 31. Juli 1914 wurde er in Paris von einem ideologisch besessenen Attentäter ermordet. Nach dem Krieg wurde er von einem Gericht freigesprochen, die Kosten des Gerichtsverfahrens wurden der Witwe von Jaurès auferlegt.
Frau Lilly Czech hat als Abgesandte einer Brünner sozialdemokratischen Frauenorganisation teil-genommen und es liegt auf der Hand, dass sie sich in die von Clara Zetkin geführten Frauenkonferenz einbrachte. Es kann angenommen werden, dass Matthias Eldersch und Dr. Ludwig Czech, zum engeren Kreis um Dr. Viktor Adler gehörend, in der Antimilitarismus-Gruppe gearbeitet haben.
Beide Politiker, Eldersch und Dr. Czech, Jurist und außerordentlich fähiger Brünner Verwaltungs-Fachmann, waren später maßgeblich an der Sozialgesetzgebung und der Modernisierung des Krankenkassenwesens (also einer Art Gesundheitsreform) in ihrer Heimat beteiligt. Eldersch wurde Ende der 1920er Jahre Präsident des österreichischen Nationalrats, Dr. Czech 1928 zum Minister für Soziales in der „neuen“ Tschechoslowakei. Während mitteleuropäische Politiker den sich überschlagenden Folgen der Weltwirtschaftskrise in den frühen 1930er Jahren, Arbeitslosigkeit, Hunger und unvorstellbarer Not noch fassungslos gegenüberstanden, entwickelte Dr. Czech das erste Notmaßnahmen-System zur Grundnahrungsversorgung, oft bitter nötige Hilfe für Arbeiter der ersten tschechoslowakischen Republik.
Matthias Eldersch starb 1931 gerade 62 Jahre alt in Wien, Dr. Czech zögerte zu lange, konnte sich nicht zur Flucht vor dem heranziehenden Nationalsozialismus entschließen. Er starb, fast auf den Tag genau 35 Jahre nach dem Stuttgarter Kongress, am 20. August 1942, im Konzentrationslager Theresienstadt. Während der kommunistischen Herrschaft in der Tschechoslowakei nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Persönlichkeit und Leistung Dr. Czechs oft verspottet und ironisiert. Erst 1993 wurde in Theresienstadt unter der Anwesenheit des damaligen Staatspräsidenten Václav Havel, des damaligen Vorsitzenden der deutschen Sozialdemokraten, Hans-Jochen Vogel und weiterer Persönlichkeiten der europäischen Zeitgeschichte eine Gedenktafel enthüllt. Das BRUNA-Nachrichtenorgan „Brünner Heimatbote“ berichtete seinerzeit darüber.
Heute ist Stuttgart mit Brünn durch einen Städte-Partnerschaftsvertrag verbunden. Bei den älteren Brünnern im In- und Ausland wird heute noch die Persönlichkeit Dr. Ludwig Czechs hoch geschätzt. In der Zwischenzeit erinnert auch in Brünn eine Gedenktafel an diese herausragende Persönlichkeit.
Der Stuttgarter „Sozialistenkongress“ wurde in dem seinerzeitigen „Schützenhaus“ in Heslach, damals ein Stuttgarter Vorort, der nur mittels eines längeren Fußmarsches zu erreichen war, beendet. Einer der französischen Delegierten, Henri de la Porte, erinnert sich später an einen herrlichen Sommerabend, an dem die württembergischen Genossen ihren Freunden aus aller Welt ein „Picknick“ spendierten, sie herzlich empfingen und mit württembergischem Wein und belegten Broten bewirteten. Und, so endet de la Porte: „wie ein Signal begannen alle die Marseillaise anzustimmen. Die Franzosen blickten sich stumm an und der Gesang schwoll an, schwoll weiter an, ergoss sich in die Nacht wie ein Brausen. Dies war nicht mehr die Marseillaise der französischen Bauern. Nein, dies war die alte, Marseillaise, die lebendige Marseillaise, – es war der Schrei der Freiheit der ganzen Welt.“
Heslach – ehemaliges Schützenhaus. Foto: Hanna Zakhari