Martina E. Büchel (geb. 1959) aus dem hessischen Oberursel erzählt, wie sie ihrer „Wurzel-Heimat“ im Kuhländchen nachspürte.

Beim Zeitungslesen hat mich jüngst eine Überschrift in den Bann gezogen: „Die Toten wohnen in den Anekdoten.“ Der Autor schreibt in seiner Kolumne über Ahnenforschung, die bekanntlich oftmals zum Betätigungsfeld von Ruheständlern wird. Altersmäßig zähle ich zwar auch bald dazu, aber ich habe viel früher damit begonnen. Jene Jahrgänge – so der Autor – graben oftmals in trauter Runde bei Familientreffen in der Familiengeschichte und beim Sichten von alten Familienalben werden „Erinnerungsfetzen wie Pollen in einem Bienenstock“ gesammelt.

Doch Erinnerungen basieren immer auch auf subjektiven Eindrücken, die dann auch in das Erlebte, ja sogar in das Weitererzählte, einfließen. Der Autor stellt daher zurecht die Frage: „Wie kann denn da bei so viel Subjektivität noch von einer historischen Objektivität die Rede sein?“ Die erzählten Erinnerungen meiner Verwandten verwoben mit meinen eigenen Eindrücken beflügeln Gefühle von Verbundenheit und Geborgensein. Daher spreche ich auch von meiner „Wurzel-Heimat“, die ich im Kuhländchen gefunden habe.

Für mich wohnen die Toten nicht in den Anekdoten: Ich habe den Toten und den Orten eine Seele gegeben. Das Wissen um meine Familiengeschichte väterlicherseits hat einen fruchtbaren Boden bereitet: Ich bin gewachsen und dankbar für die Fülle an Erlebtem. Manches Belastende, das an mich als Nachgeborene weitergegeben wurde, betrachte ich inzwischen aus einem anderen Blickwinkel.

Reisen in die „Wurzel-Heimat“

Mit all den Geschichten aus Erzählungen, Lektüre und Erlebtem im Kopf, bin ich bisher dreimal in das nordmährische Kuhländchen gereist, um nachzuspüren, was „Wurzel-Heimat“ für mich bedeutet. Bei meinen ersten beiden Reisen hat mein Onkel Willfried Klesel (* 1944 in Dobischwald), immer auch als Zuhörer mit großem Interesse an meinen Erlebnissen teilgenommen. Die Artikel und Vorträge u.a. über die Fahrten hat er als Erster zu lesen bekommen. Nun waren wir im Sommer 2019 gemeinsam Akteure der Familienreise. Nach meiner Teilnahme an der St.-Anna-Wallfahrt im Juli 2017 habe ich zwei Tage später in Eigeninitiative und mit Unterstützung durch meinen Odrauer Freundeskreis bereits ins Odrauer Museum (Muzeum Oderska) eingeladen. 2019 sollte dort ein zweites Treffen mit Familienangehörigen an meiner Seite folgen. Ich begreife meine Initiative als Verständigungsbeitrag – auch die nachgeborene Generation kann Brücken bauen.

Willfried Klesel († 2021 in Passau) – ein Kriegskind – hat bis zur Vertreibung 1946 in Dobischwald (Dobešov) Haus Nr. 73, welches sein Vater für seine Familie gebaut hat, gelebt. Nach der Wende besuchte mein Onkel erstmals 1997, dann 1998 mit einer Heimatgruppe aus Tiefenbach b. Passau das Kuhländchen und den Heimatort Dobischwald, aus dem die meisten Mitreisenden stammten. Den dritten Besuch unternahm er – obgleich gesundheitlich angeschlagen – im Juni 2019. Onkel Willis großer Wunsch war, gemeinsam mit seiner Tochter Ulrike (* 1971), seinem Sohn Wilfried Karl (* 1968) und mir (* 1959) ins Kuhländchen (Kravařsko), in unsere „Wurzel-Heimat“, zu fahren. Seine beiden Kinder sollten „die Leute und die Landschaft ihrer Großeltern kennenlernen“, so seine Worte bei der Eröffnungsbegrüßung im Heimatmuseum.

Heimattreffen und Heimatfahrten

Onkel Willi begleitete seine Mutter oft zu den Heimattreffen und erlebte bereits als Kind den Zusammenhalt der vertriebenen Dobischwälder. Bereits in den 1950er Jahren haben Heimattreffen stattgefunden. In einer Ausgabe des Odrauer Heimatbriefs schreibt Ferdinand Sendensky, dass es viele Dobischwälder Familien – insgesamt 75 Personen – nach der Vertreibung in die niederbayerische Gemeinde Tiefenbach Kreis Passau verschlagen hat. Auch zum zehnjährigen Gedenken an die Vertreibung und zum 100. Jahrestag der Erbauung der Kirche in Dobischwald am 20. Mai 1956 wurde ein Treffen organisiert. Das Heimattreffen zur 50. Wiederkehr der Vertreibung fand im Juli 1996 statt. Bei dem Treffen kam der Wunsch auf, eine gemeinsame Fahrt nach Dobischwald zu unternehmen. Im Mitteilungsblatt „Alte Heimat Kuhländchen“ berichtet Rudolf Püschel über diese Busreise, die im Mai 1997 veranstaltet wurde. Die Nächste folgte im September im Jahr darauf. An den beiden ersten Reisen hat mein Onkel teilgenommen. Bei der nächsten Fahrt 2011 musste er leider aus gesundheitlichen Gründen seine Teilnahme absagen. Daher war es ihm eine Herzensangelegenheit, im Juni 2019 noch einmal nach Dobischwald – heute ein Ortsteil der Gemeinde Odrau (Odry) – zu fahren.

Der obligatorische Programmpunkt in jenem Sommer: der Besuch der Dobischwälder Pfarrkirche und des angrenzenden Friedhofs. Die Führung übernahmen Josef Klézl und Jaroslav Juroška. Jaroslav war ein engagierter Bewohner der Gemeinde und mit 93 Jahren der dienstälteste Mesner/Küster im Bistum Ostrau-Troppau. Zusammen mit seiner Frau Maria waren die beiden Hüter des Friedhofs und der Wegkreuze im Ort. Seit 1946 lebte er mit seiner Familie in Haus 73, dem ehemaligen Haus meines Großvaters.

Gedenktafel erinnert an deutsche Bewohner

Am 19. Juli 2023 wurde auf dem Dobischwälder Friedhof eine Gedenktafel feierlich eingeweiht. Sie trägt in tschechischer und deutscher Sprache die Inschrift: „In Erinnerung an die Bewohner der deutschen Nationalität, die in Dobischwald von der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts bis 1946 lebten.“

Die Initiative für die Gedenktafel ging von der Dobischwälder Ortsgemeinschaft aus. Die Deckung der Kosten wurde durch Spenden finanziert. Bei der Gedenkfeier zählten zu den zahlreichen Gästen auch der Odrauer Bürgermeister Libor Helis und seine Stellvertreterin Libusa Králová sowie die Odrauer Brüder Emil und Zdeněk Mateiciuc. Die Initiatoren und die Teilnehmenden haben mit der Auseinandersetzung ihrer Heimatgeschichte den seit Jahrhunderten ansässigen, überwiegend deutschen Dobischwälder Bewohnern – insbesondere den 1946 aus der Gemeinde Vertriebenen – ein Andenken gesetzt.

Ein Bild, das Text, Gedenktafel, Platte, Gebäude enthält.Automatisch generierte Beschreibung
Am 19. Juli 2023 wurde die Gedenktafel auf dem Dobischwälder Friedhof eingeweiht. Foto: Archiv Martina E. Büchel

Neue Dobischwälder Chronik

Beim Heimattreffen im Mai 1983 in Tiefenbach hat Ferdinand Sendensky (* 1910 in Dobischwald, † 2001) das von ihm verfasste und im Selbstverlag herausgegebene „Dobischwälder Heimatbuch“ vorgestellt. Ein Bericht ist im Heimatbrief der Stadt Odrau und Umgebung (Nr. 243, Feb.1990) zu finden. Der Chronist Sendensky war der erste von den vertriebenen Dobischwälder Einwohnern gewählte Ortsbetreuer und Initiator vieler Heimattreffen in Tiefenbach.

Das Dobischwälder Heimatbuch
Das Dobischwälder Heimatbuch

Im „Dobischwälder Heimatbuch“ schreibt Sendensky im Vorwort, dass die alte Ortschronik von Otto Lux († 1945) verlorengegangen sei und ihn seine Landsleute und der Landschaftsrat Kuhländchen ermuntert haben, aus seinem Gedächtnis all sein Wissen aufzuschreiben. Dem Wunsch ist er nachgekommen: Im Rentenalter verfasste Sendensky „Eine kleine Ortsgeschichte der Gemeinde Dobischwald, eingebunden in die 700-jährige Geschichte des Kuhländchens“. Darin schreibt er abschließend: „Das war nun unsere Heimat, in der über zwanzig Generationen gelebt und gearbeitet haben. Unsere Nachkommen sollen ihre Herkunft nicht vergessen!“ Das mag auch als Wunsch für die jetzigen Bewohner und deren Nachkommen bis heute gelten.

Die Chronik von Sendensky und die heute wieder zugängliche Chronik von Otto Lux gelten als historische Nachschlagewerke. Wie es sich zeigt, sind sie auch wichtige Grundlage für die Erkundung der Ortsgemeinde für die nachfolgenden deutschen und tschechischen Generationen.

Kriegerdenkmal bleibt vermisst

In der Zeitschrift POODŘÍ 2/2022 wurde über die im Ersten Weltkrieg gefallenen Dobischwälder Männer berichtet. Als Quelle zur Identifikation der Gefallenen diente diesem Beitrag eine schlechte Abbildung des Kriegerdenkmals der Gemeinde Dobischwald mit Fotos und Namen der zwölf Gefallenen. Erhalten ist von diesem ehemaligen Kriegerdenkmal auf dem Dobischwälder Friedhof, den wir 2019 ebenfalls besuchten, noch die bis zu 20 Zentimeter hohe Betonmauer, der Sockel des Denkmals und sein oberster Teil. Der ursprüngliche Standort befand sich in der Mitte der Gemeinde und wurde in den 1970er Jahren entfernt. Die Ortsgemeinschaft hat bei der Gedenktafelenthüllung beschlossen, dass in Zusammenarbeit mit Archäologen auf dem Gelände der ehemaligen Mülldeponie nach dem Denkmal gesucht werden soll. Eine Restaurierung werde in Erwägung gezogen, sollte das Denkmal gefunden werden. Dann könnte es wieder auf den vorhandenen Sockel errichtet werden.

Zu den im Ersten Weltkrieg Gefallenen gehörte auch Ferdinand Sendensky (*1883, † 1916), der Vater des erwähnten Chronisten. Wie der Vater im Ersten Weltkrieg, sollte später auch der Sohn im Zweiten Weltkrieg dienen. Ferdinand Sendensky Junior kehrte jedoch im Sommer 1948 aus der Kriegsgefangenschaft zurück.

Auch Onkel Willis Mutter, meine Großmutter Aloisia Klesel, geb. Blaschke, (* 1910 in Dobischwald, † 1992 in Passau) trauerte um ihren Ehemann Emil Alfred (* 1907 in Dobischwald). Im Januar 1942 wurde mein Großvater einberufen und kam 1943 an die Front. Seit 5. Februar 1945 galt er im Raum Nordpolen bei Mehlsack als vermisst. Auf dem Kriegsgräberfriedhof in Bartosze (Bartossen) in Nordpolen steht er auf einer Liste und wird als vermisst geführt. So konnte Onkel Willi unsere Ahnentafel um diese Angaben ergänzen.

Ein Beitrag für Verständigung

Bei unserem Treffen 2019 im Stadtmuseum präsentierte Josef Klézl den weitverzweigten Familienstammbaum, der die Verwandtschaftsgrade der Familien Klesel/Klösel/Klézl dokumentiert. So konnte Onkel Willi erfahren, dass wir gemeinsame Vorfahren haben: Josef Klesel (1780-1842) und Veronika Czihalová (1786-1848). Der Familienstammbaum hat für meinen Onkel sehr viel bedeutet, war er doch eine Brücke zu seinem Vater und unseren familiären Wurzeln. Zudem hat Onkel Willi noch lebende tschechische Verwandte kennenlernen dürfen. Wie ich finde ein Geschenk, auch für seine Nachkommen.

In Heimatverbundenheit sei Jaroslav Juroška, Willfried Klesel, Ferdinand Sendensky und den vielen weiteren inzwischen Verstorbenen gedacht. Die Ehrung und das Gedenken, die der ehemaligen deutschen Bevölkerung im Kuhländchen – insbesondere in Dobischwald – nach 77 Jahren der Vertreibung zuteil kommt, hätte die drei von Herzen erfreut. Ich schaue auf das Ereignis als eine Nachgeborene – die sogenannten Kriegsenkel-Generation – und danke der Dobischwälder Ortsgemeinschaft und den Initiatoren, die auch für ihre Nachkommen Heimatgeschichte ins kulturelle Erbe geschrieben haben. Aus meiner Sicht, ein erneuter Beitrag zur Verständigung.

Diese Entwicklung ist keine Selbstverständlichkeit, denn es bedarf gewachsener Strukturen, d.h. Heimattreffen, -fahrten, Heimatvereine und Mitteilungsblätter, engagierte Ortsbetreuer usw. Zudem familiäre Verbindungen, ein Verlangen nach Heimatverbundenheit und ein Interesse an Familien- und Heimatgeschichte. Das gilt für Deutsche, wie für Tschechen. Dass sich nachgeborene Generationen für ihre Wurzeln interessieren, ist nicht selbstverständlich. In diesem besonderen Fall hat es beispielhaft funktioniert. Mein Onkel hat mein Interesse geweckt und mein Großcousin Josef hat uns mit dem weitverzweigten familiären Stammbaum beschenkt. Beide Seiten haben erfahren dürfen, dass Begegnungen über Grenzen und Nationalitäten hinweg möglich sind.

Dieser beitrag erschien zuerst in der landesecho-ausgabe 5/2024

Das neue LandesEcho 5/2024 ist da!

Ein 100-jähriges Jubiläum in Teplitz, der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zu Besuch in Prag, die Eröffnung eines Gedenkortes für Roma und Sinti und vieles mehr finden Sie in der neuen Mai-Ausgabe des LandesEcho.

Mehr…

Werden Sie noch heute LandesECHO-Leser.

Mit einem Abo des LandesECHO sind Sie immer auf dem Laufenden, was sich in den deutsch-tschechischen Beziehungen tut - in Politik, Gesellschaft, Wirtschaft oder Kultur. Sie unterstützen eine unabhängige, nichtkommerzielle und meinungsfreudige Zeitschrift. Außerdem erfahren Sie mehr über die deutsche Minderheit, ihre Geschichte und ihr Leben in der Tschechischen Republik. Für weitere Informationen klicken Sie hier.