Illustration: Sudetistanische Industrielandschaft - Bild: LE/Jiří Bernard

Ein Ort, ein Land wird durch seine Menschen gemacht. Und Menschen drücken sich durch ihre Sprache aus. Die Sprache ist also auch ein Spiegel der Umgebung, in der wir leben. In Sudestistan gilt das doppelt.

Wir hätten die jahrhundertealte Kultur in Nordböhmen erhalten können. Die Menschen dort mit ihren Bräuchen und ihrer Sprache, die so weitläufig ist, wie die Wurzeln eines jahrhundertealten Baumes im Egerland. Aber wir haben gesagt: nein. Das wäre ja noch schöner, wenn jemand zu diesem Stückchen Erde irgendeine Beziehung hätte.

 

 

 

In Sudetistan erklingen die Lieder des Anton Günther aus Gottesgab schon lange nicht mehr, die so gesungen wurden, wie man in Arzgebirg sang, gespielt auf Instrumenten, die man dort spielte. Das Malerische und Sentimentale dieser Kultur ist lange weg und hat nicht einmal einen Hauch der Erinnerung hinterlassen.

Auch die Sprache ist in Sudetistan nach dem Krieg nie wieder aufgeblüht. Es hat sich einfach vermischt, was dort im Rahmen der Neubesiedelung so alles zusammen kam. Um keine Sensi bilitäten zu verletzen, sollte man bei einem Besuch im wilden Norden aber grundsätzlich einige Konversationsregeln beachten.

Auf Nummer sicher geht man in jedem Fall mit dem obligaten „Ahoj“. Das ist durch und durch neutral. Schwieriger wird es bei „Grüß Gott“. Diesen Gruß würde ich nicht empfehlen. In Sudestistan glaubt man nur an das, was man anfassen oder abbauen kann. Bei Gott geht beides nicht. Ganz wichtig ist aber, den Gruß, also das „Ahoj“ nicht von einem „Wie geht es Dir?“ oder „Wie läuft´s?“ folgen zu lassen. Der Grund ist einfach: In Sudetistan geht es jedem unter allen Umständen schlecht! Es fehlt an Geld, die Kinder haben nichts zu essen und die Staubbelastung in der Luft hat aus unseren Lungen schon längst Kiesgruben gemacht.

Ein korrektes Gespräch „über das Wetter“, also Small Talk, der primär dazu dient, die Zeit zu füllen, in der man, im Bus oder anderswo, neben einem entfernten Bekannten steht, den man schon lange nicht mehr gesehen hat, ist auf jeden Fall nicht möglich, wenn man nicht auf die herrschenden Umstände schimpft.

Eine unschuldige Frage, wie „Wie geht es in der Arbeit?“ gilt als viel zu vertraulich. Vergessen Sie nicht, dass Sie in Sudetistan sind. Hier sollte die richtige Frage eher heißen: „Hast Du Arbeit?“.

Oft genug wird die Antwort „Nein“ lauten. Darauf ist es wichtig zu betonen, dass „es keine Arbeit gibt“ und wenn es sie gäbe, „dann für wenig Geld“ und wenn das Geld stimmen würde, dann wäre „der Chef ein Idiot“. In jeder anständigen sudetistanischen Konversation sollte man nicht vergessen zu erwähnen, dass der Staat sich uns gegenüber verhält, wie zu unehelichen Kindern, dass die Stütze viel zu niedrig ist und man nicht mit ihr auskommt.

Wer in der ersten Liga mitreden will, der sollte auf keinen Fall vergessen zu übertreiben. „Wenn ich Sprachen könnte, dann würde ich nach Deutschland zum Arbeiten fahren. Meine Schwägerin ist dort Zimmermädchen. Für vier Euro die Stunde. Da verdient man halt ganz anderes Geld als hier“. Ja, in Sudetistan hat man noch kleine Träume.

Man sagt, die fruchtbarsten Diskussionen handeln von Ideen, Plänen und Wünschen. Wir im Norden diskutieren aber am liebsten über Dinge des alltäglichen Gebrauchs. „Im Tesco ist Toilettenpapier im Angebot.“ – „Gut, Papa, dann nehmen wir gleich zwei Wägen und kaufen lieber mehr ein, solange es billig ist.“, entscheidet dann Mutti.

Ganz oben in der Hitparade sudetistanischer Klischees platziert hat sich auch das traditionelle „Das hätte es früher aber nicht gegeben“ beziehungsweise „Unter den Kommunisten war es besser“ oder, konkreter gesagt, „Wir hatten zwar keine Freiheit, dafür aber Arbeit“.

Sollte sich eine Konversation in diese Richtung entwickeln, kann ich Ihnen nur raten – denn ich meine es gut mit Ihnen – sich nicht in die Debatte einzumischen. Sie ist wie Treibsand. Je stärker Sie versuchen rauszukommen, desto tiefer versinken Sie. Spielen Sie den Beichtvater, bei dem sich der, vom Kapitalismus enttäuschte Familienvater sich ausweinen kann. Niemand nimmt einen Fall des Lebensstandards einfach so locker hin. Vor allem Bergmänner nicht, die sich bis heute gerne selbstbeweihräuchern: „Ich bin ein Kumpel, wer ist mehr“.

Erlauben Sie mir kurz darüber nachzudenken, ob es im Sozialismus wirklich besser war. Möglich. Zumindest, wenn gerade kein Smog-Alarm herrschte oder saurer Regen fiel.

Es ist natürlich unmöglich einen sudetistanischen Sprachführer zu schreiben, ohne dabei die Kunst des politischen Diskurses zu erwähnen. Hier gilt es, sich an eine einfache Regel zu halten: Jeder ist ein Idiot. „Der Bürgermeister, der ist bestochen und hat sich mit dem stellvertretenden Bürgermeister die Taschen mit dem Auftrag für den Kreisverkehr links hinter dem Feld gefüllt. Der Kreishauptmann ist ein Kommunist, der nichts gemacht, aber auch nichts kaputt gemacht hat, trotzdem werde ich in den nächsten Wahlen wieder für ihn stimmen. Kurz gesagt, Politik ist ekelhaft, denen geht es nur um die fette Beute“, hört man gerne beim Bier in der Stammkneipe.

Die Jugend spricht hingegen nur, wenn es absolut notwendig ist. Meist bestehen ihre Gespräche aus Füllwörtern, wie „wennscho“, „eigentlich“, „Depp“, „als ob“ „no“. Ein letzter Rat: verwenden Sie niemals Fremdwörter. Sonst geht es Ihnen wie dem jungen Mann in Most, der ein Mädchen jüngst fragte, ob ihr nicht etwas Sophistizierteres einfiel. „Ich verstehe Dich nicht, sprichst Du überhaupt Tschechisch“, fragte sie ihn verwundert, aber ernsthaft zurück.

Sudetistanisch ist eine eigenartige Sprache. Sie steht irgendwo zwischen Tschechisch und dem ersten Redeversuch eines Schlaganfallpatienten. Einfach und doch reich. Wie Sudetistan selbst.

 

Dominik Feris Kolumne „Im wilden Sudetistan“ finden Sie jeden Monat exklusiv im LandesEcho und auf landesecho.cz . Dieses Feuilleton erschien im LandesEcho 1/2016.

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