Am Montag veranstaltete die Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde (DGO) mit dem Institut für Internationale Studien der Karlsuniversität Prag im Palais Lobkowitz der Deutschen Botschaft einen Diskussionsabend zur tschechischen EU-Ratspräsidentschaft und zur „neuen europäischen Ordnung“.
An diesem Abend setzten sich die Teilnehmenden der Runde mit dem „historischen Wendepunkt“ in der Geschichte Europas – Russlands Einmarsch in die Ukraine – auseinander. Sie diskutierten Fragen wie: Welche Folgen hat es, dass Sicherheitspolitik und Energiepolitik in Europa nicht mehr mit Russland, sondern gegen Russland gemacht werden können? Welche Bedeutung hat dies für das Verhältnis zwischen der Europäischen Union und der NATO, für die Beziehungen der ostmitteleuropäischen Staaten zu Deutschland, für die deutsch-tschechischen Beziehungen bilateral und in der EU?
Sicherheitspolitik in Kriegszeiten
In der ersten Podiumsdiskussion, die von Zuzana Lizcová (Fakultät für Sozialwissenschaften der Karlsuniversität Prag) moderiert wurde, debattierten Jan Jireš, stellvertretender Verteidigungsminister der Tschechischen Republik, Jakub Eberle vom Institut für Internationale Beziehungen in Prag sowie Kai-Olaf Lang von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin miteinander über ihre Ansichten zur Sicherheitspolitik in Kriegszeiten.
„Wir glaubten, Kriege würden auf der Tastatur gewonnen“
Der stellvertretende Verteidigungsminister Jireš sprach im Hinblick auf die Sicherheitspolitik in Kriegszeiten von drei Lektionen, die Europa lernen musste. Die zentrale Lehre aus dem Ukraine-Krieg sei, „wie überaus materiell anspruchsvoll ein moderner Krieg mit je einem Gegner ist“. Des Weiteren hätten die verschiedenen Reaktionen der Länder auf den Krieg zu einer Veränderung der Machtbalance in der EU geführt. Mittel- und Osteuropa würden in den nächsten Jahren ein viel größeres Mitspracherecht bei europäischen Verteidigungs- und Sicherheitsfragen bekommen, so Jireš. Jedoch habe kein europäischer Staat im Zuge dieses Kriegs bewiesen, zu einer echten Führungsrolle fähig zu sein. Die dritte Lektion für Europa sei, dass eine Beteiligung der USA in der europäischen Verteidigung und Sicherheit unverzichtbar ist, erläuterte Jireš dem Publikum. Damit ergebe sich die Hauptrolle der EU: nämlich eine kollektive Verteidigung der NATO zu ermöglichen.
„Deutschland muss sich neu orientieren“
Die EU-Staaten, allen voran Deutschland, müssten sich neu orientieren. Deutschland sei direkt in den Krieg und die Aggressionsbekämpfung involviert, betonte dagegen Kai-Olaf Lang von der SWP. Deutschlands Zivilmacht als „Handelsstaat“ reiche nicht aus; die Regierung müsse ihren Spielraum für „harte Macht“ öffnen. Die Lektion, die die EU aus dem Krieg gelernt habe, sei nach Lang, dass sie sich auf ihre Effektivität konzentrieren und nicht hinter jeder Entscheidung vereint stehen müsse, fügte er hinzu. Laut Lang habe der Ukraine-Krieg eine zentrale Konsequenz für Deutschland: Die Osteuropapolitik der deutschen Regierung verändere sich – weg von „Russia first“ oder „Russia only“ und hin zu anderen Ländern Mittel- und Osteuropas, so Lang in der Debatte.
„Wir müssen die Definition von Diplomatie neu lernen“
Jakub Eberle vom Institut für Internationale Beziehungen in Prag ging im Hinblick auf die Verteidigungs- und Sicherheitspolitik Europas vor allem auf die tschechisch-deutschen Beziehungen ein. So kritisierte er den tschechischen Diskurs über Deutschland folgendermaßen: „Wir messen Deutschland oft daran, wie wir es gerne hätten, nicht wie es ist.“ Nicht nur zwischen den beiden Ländern mangele es an Empathie und Verständnis, in der gesamten EU herrsche mangelnder Nachdruck darauf, den Staatenverbund zusammenzuhalten, so Eberle. Die Länder Europas müssten neu lernen, was Diplomatie bedeute; nämlich Management zwischen den Staaten, die sich nicht gegenseitig beschuldigen oder belehren.
Energiepolitik im Spannungsfeld von Ökologie und Sicherheit
Die zweite Diskussionsrunde moderierte Volker Weichsel, Redakteur der von der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde (DGO) herausgegebenen Zeitschrift OSTEUROPA. Im Mittelpunkt der Diskussion zwischen Tomáš Ehler, dem stellvertretenden Industrie- und Handelsminister der Tschechien Republik, Andreas Rau von Net4Gas und Christoph Podewils, Autor von „Deutschland unter Strom“, über die zukünftige Energiepolitik in Europa standen Fragen nationaler Präferenzen, europäischer Abstimmung und bilateraler deutsch-tschechischer Zusammenarbeit bei der Auswahl des Energiemixes in den verschiedenen Sektoren der Volkswirtschaft.
Neben Fragen zur Ausrichtung und Finanzierung der mittel- und langfristigen Transformation der Energiesektoren wurden Fragen adressiert, die sich kurzfristig in Zeiten akuter Energieknappheit und massiv gestiegener Energiepreise auf nationaler sowie europäischer Ebene stellen.
Moderator Volker Weichsel (links), der stellvertretende Industrie- und Handelsminister Tomáš Ehler, Andras Rau von Net4Gas und Buchautor Christoph Podewils. Foto: Magdalena Moser
„Wir brauchen einen optimalen Energiemix“
Tschechien stehe in der Energiepolitik einem Preisproblem gegenüber, das mit der Grenzpreiskurve und strukturellen Defiziten auf der Angebotsseite zusammenhänge, so der stellvertretende Handelsminister Tomáš Ehler. Seine langfristige Strategie setze sich deshalb aus einem Eingriff auf der Angebotsseite und bei den Preisen zusammen. Laut Ehler sei es nicht möglich, russisches Gas in ein bis zwei Jahren zu substituieren. Eine Lösung seien mehr LNG-Verträge und Energiesparmaßnahmen. Die EU müsse ein optimales Verhältnis zwischen verschiedenen Energiequellen finden, so Ehler. Dies könne zur Lösung des Energieproblems beitragen.
„Die größte Herausforderung für Europa ist, Ersatz für das russische Gas zu finden“
Andreas Rau von Net4Gas beschrieb die Situation des Energiemarkts in der EU als „besser als erwartet“. Die Gasspeicher seien zu 80 Prozent gefüllt und Deutschland sowie Tschechien würden das europäische Ziel übertreffen. Die Speicher könnten den Winterbedarf Europas von zweieinhalb Monaten decken, fügte er hinzu. Ein Problem sei erst der nächste Winter, wenn die europäischen Speicher geleert seien. Er betonte, die größte Herausforderung für Europa sei es, Ersatz für das benötigte russische Gas zu finden. Diesen Ersatz könnte die EU in den geplanten LNG-Terminals finden. Diese seien für Raul neben Energieeinsparungen die beste Strategie.
Trotzdem stellte er in der Diskussion heraus, dass Erdgas für die nächsten zehn Jahre die Brückentechnologie Europas bleiben werde. Jedoch brauche die EU neue Energiequellen, um weniger abhängig von einzelnen Gasquellen zu werden.
„Deutschland macht einen Schritt zurück“
Autor Christoph Podewils kritisierte den Rückschritt Deutschlands in der Energiepolitik. Das Klimaziel sei durch die Verlängerung der Atomkraftwerke oder den Bau von LNG-Terminals in Gefahr. Deutschland nutze Gaskraftwerke, um die Energielücke zu füllen, denn dies sei die billigste Lösung. Jedoch, so Podewils, bräuchten wir diesen Rückschritt, um das jetzige Energiesystem zu stabilisieren. Zudem wies er darauf hin, dass die Notfallmaßnahmen aufgrund der extremen Preiserhöhungen den Energiemarkt von einem liberalen zu einem regulierten Markt verändert hätten.
Herausforderungen nur gemeinsam zu bewältigen
Die Teilnehmenden der beiden Diskussionsrunden waren sich schließlich einig, dass Tschechien und Deutschland zwar ihre eigenen nationalen Lösungen haben, beide Staaten aber die gleichen Werte und Einstellungen in Grundwerten teilen. Die Herausforderungen, die auf die Länder warten, könnten sie nur gemeinsam bewältigen. Deshalb sei es wichtig, über gemeinsame Strategien zu sprechen und partnerschaftlich nach vorne zu schauen.