Der Volkshaus-Garten zur Zeit des Streiks. Foto: Hanna Zakhari

Im Jahr 1899 erlebte die mährische Metropole Brünn (Brno) einen ganz besonderen Ersten Mai. Zum ersten Mal dürfen die Arbeiterinnen und Arbeiter der städtischen Textilfabriken einen Mai-Umzug organisieren. Zwei volle Monate werden sie streiken und eine überbordende Solidarität aus der Bevölkerung erleben. Hanna Zakhari, Leiterin des deutsch-tschechischen Begegnungszentrums in Brünn, hat den einstigen Ort des Geschehens aufgesucht.

Lesen Sie hier Teil 1: Als in Brünn die Weber streikten: Ein ganz besonderer Erster Mai

Wer kann, der spendet

Die damaligen Journalisten, ganz ohne Facebook und Handys, läuten noch eine ganz andere Aktion ein. Sie machen zuallererst die verehrten Leser darauf aufmerksam, dass der Streik von 12.000 Textilarbeitern etwa 50.000 Bürger betrifft, Familien, die nicht nur von Not, sondern direkt von Hunger betroffen sind. „Rovnost“ und „Volksfreund“ kündigen Sammlungen an. Gesammelt wird alles, was man so braucht: Essen, Geld, Kleidung.

Es ist das Vereinshaus und sein Garten -, den ich nun, nach einhundert Jahren anstarre – in dem die Sammlungen stattfinden und in dem auch das Notwendige gerecht verteilt wird. Die Namen der Spender werden in beiden Zeitungen veröffentlicht. Dutzende von dicht bedruckten Seiten nennen Namen und Spende. Zum Beispiel dieser gewisse Kupčík aus Altbrünn, er besaß eine Molkerei, ich weiß es von meiner Tante aus der Oberpfalz, die wohnten früher dort, spendete 30 Brote, jemand aus Králové Pole 20 kg Zichorie, 20 kg Grieß, ein Kilo Kaffee und ein Kilo Grieben, Herr Pelikán von der Bäckergasse 150 Würste, Herr Bulka und Dr. Spitz aus Pekařská sind bereit, zwei Streikenden während des Streiks täglich ein komplettes Mittagessen anzubieten, und so weiter und so fort, seitenweise.

Dutzende Säcke mit Kartoffeln, Hülsenfrüchten, sogar Zigaretten, Zichorie und etwas richtigen Kaffees lagern im Vereinshaus, groß genug ist es jedenfalls und lange wird die Ware nicht bleiben, die Not ist furchtbar. Jeden Montag wird nach genauen Regeln sowohl an Gewerkschaftsmitglieder als auch an Nichtmitglieder verteilt. Allein in der ersten Juniwoche, da dauert der Streik schon fast fünf Wochen, werden 21.000 kg Mehl und 11.000 Brotlaibe verteilt, zusätzlich zu Tonnen zusätzlicher Lebensmittel.

Aus ganz Altösterreich kommen Spenden, manchmal kleine Beträge von Einzelpersonen, manchmal größere von Vereinen. Die Redaktion von „Rovnost“ sammelt und spendet 233,38 an die Streikenden, ob es jetzt Gulden oder Kronen sind, ist nicht klar erkennbar. Eine alte Dame schickt zwei Kronen, eine andere drei, aus Reichenberg, Wischau, Wien, Klagenfurt, kommt noch etwas mehr. Eisenbahner organisieren Sammlungen, jede Werkstatt der Ersten Brünner, jede Werkstatt der Wannieck-Fabrik, Montage, Gießerei, Schmiede… Arbeiter sammeln aus Solidarität mit diesen Textilmenschen, my Brňáci jsme přece kabrňáci. Der erste Stock von Pisco`s Textilfabrik, des Unternehmers, der die Zehn-Stunden-Arbeitszeit vorzeitig eingeführt hat, spendet 9,60, der zweite Stock 9,25, aber der dritte Stock, schlägt den anderen die Puste aus, mit 15,90.

Aber die Journalisten ergreifen noch ganz andere Maßnahmen. Sie telegraphieren in die Welt. Sie informieren über Streik, Zustände und Armut. Die Nachricht über den Brünner Textilarbeiter-Streik erreicht sogar Frankfurt. Dort tagt derzeit ein Kongress der deutschen Gewerkschaften. Diese beschließen, für jeden organisierten Arbeiter einen Pfennig zu schicken. Damals insgesamt 20.000 Mark. In Belgien findet ein Bergbaukongress statt, auch diese schicken Grüße an die Brünner Textilarbeiter.

Der weltberühmte österreichische Satiriker Karl Kraus kommt ebenfalls zu Wort. Auf seine trockene Weise informiert er in seiner Fackel: „Einen vollen Monat stehen die 12.000 Weber und Spinner von Brünn im Streik. Nicht eine Lohnerhöhung ist es, was ihre socialistische Begehrlichkeit verlangt. Zwar ist die Geschäftslage in der Textilindustrie wieder eine glänzende geworden, aber die Arbeiter fordern keinen Antheil an den gesteigerten Profiten der Unternehmer. Sie wollen mit den 2 bis 7 Gulden auch weiter vorlieb nehmen, die ihnen allwöchentlich ausgezahlt werden, also weder an der capitalistischen Ordnung überhaupt, noch an der Gewinnrate der Herren Strakosch, Löw-Beer, Schoeller rütteln. Ihr Kampf gilt allein der Erlangung der zehnstündigen an Stelle der jetzt bestehenden elfstündigen Arbeitszeit.“

Ganz Europa bekundet moralische Unterstützung. Da ist ein Professor an der Karlsuniversität, ein gewisser Masaryk. Wahrscheinlich einer dieser jungen Träumer. Er schreibt der Streikleitung, er sei grundsätzlich der Meinung, dass die tägliche Arbeitszeit acht Stunden nicht überschreiten sollte, deshalb unterstütze er voll und ganz die Anforderungen der Brünner Textilarbeiter als ein Stück auf dem Weg zum richtigen Ziel. Wilhelm Liebknecht aus Berlin, der Echte, nicht der aus der DDR-Propaganda, der Gründer der Schweizer Soc. Parteien Herman Greulich, sie grüßen alle herzlichst und wünschen viel Erfolg und Glück. Natürlich verfolgt die gesamte Sozialdemokratie und die gesamte Gewerkschaftsbewegung Altösterreichs die Ereignisse in Brünn.

Ein langer Weg zum Kompromiss

Und die Fabrikanten? Sie bleiben hart. Sind von Montag zu Montag der Meinung, dass die Arbeiter nicht durchhalten werden. Die werden schon noch als Bittsteller zurückkommen. Nächsten Montag, ganz bestimmt, werden die Arbeiter sicher mit der Arbeit beginnen, aber wir werden es ihnen zeigen. Wir werfen sie auf die Stunde raus, hunderte anderer stehen vor der Tür. Na ja vielleicht die, die wirklich gebraucht werden. Für einen verkürzten Lohn. Nur – es vergeht der dritte Montag, der vierte, der fünfte – und es tut sich nichts. Der Bürgermeister von Brünn, August von Wiesner, droht in der Zeitung. Jegliche Ausschreitungen seien verboten und würden hart bestraft.

Schließlich wird der Hofrat Dr. Klein doch mit Verhandlungen betraut. Er lädt zur ersten Besprechung ein, allerdings mit der Maßgabe, dass keiner der Streikenden teilnehmen darf – nicht einmal ihre Führung. Die Frage eines Zehn-Stunden-Arbeitstages stelle sich auf gar keinen Fall. Die Arbeiter reagieren. Sie lehnen Verhandlungen unter diesen Umständen ab und erheben genau entgegengesetzte Forderungen. Verhandelt wird über die Arbeitszeit, verhandeln werden Josef Hybeš und Robert Preusser, Sozialdemokrat, Politiker und Redakteur aus Reichenberg.

Der Hofrat scheitert in vollem Umfang. Der Streik geht weiter. Auch den Fabrikanten gelingt das Wiederherstellen des Arbeitsfriedens nicht, trotz mehrfacher Versuche und Versprechungen, dass die Arbeiter nicht bestraft werden, wenn sie am kommenden Montag an ihre Arbeitsplätze zurückkehren. Vergeblich.

Arbeiter versammeln sich täglich in ihrem Vereinshaus. Sie erhalten dort regelmäßig Informationen über den Stand des Streiks oder der Verhandlungen. Diese Versammlungen nennt man „Meetings“. Die Streikleitung nennt sich „permanent committee“. Die Prager deutsche Tageszeitung „Bohemia“ informiert ihre Leser in nahezu ganz Europa täglich über den Brünner „Strike“. Tausende von Arbeitern versammeln sich oft nur zu einem Vortrag oder zu einem Programm, das die Vereinshaus-Leitung organisiert, zu Auftritten von Musikkapellen, Gesang oder einfach nur auf ein Bier.

Ein Montag vergeht nach dem anderen, doch die Situation bleibt dieselbe. Gerüchten zufolge sind sich die Fabrikanten nicht mehr einig, nur die Stadtverwaltung, der Bürgermeister, hält sie zusammen.

Aber die Brünner Fabrikanten geraten in immer schlechtere Position. Es sind die Wiener Konfektionäre, die die Stoffe aus Brünn dringend brauchen, um modische Kleider für Damen und Anzüge für Herren der besseren Gesellschaft herzustellen. Erst raten sie, mit den Arbeitern zu verhandeln, später üben sie immer mehr Druck aus. Wenn die Brünner Textilbarone mit den Arbeitern nicht zu einer Lösung kommen und die Fabriken nicht mit der Produktion beginnen können, werden die Wiener woanders ihre Stoffe kaufen. Der Weg nach Reichenberg ist zwar länger, aber auch Reichenberger Textilfabriken erzeugen schöne Stoffe. Also beeilen Sie sich, meine Herren. Und zwar schnell.

Da hört doch jeder Spaß auf. In die Angelegenheit schaltet sich der mährische Landeshauptmann Baron Spens-Booden ein, erfahrener Jurist und ehemaliger Richter in Prag und Wien, der beide Sprachen fließend beherrscht. Er weiß, dass beide Parteien eine zumindest teilweise Übereinstimmung erreichen müssen, niemand darf sein Gesicht verlieren.

Am 24. Juni 1899 steht das Ergebnis, ein Kompromiss. Die tägliche Arbeitszeit wird auf 10,5 Stunden reduziert, außer samstags, da endet die Arbeitszeit um 17 Uhr. Nachtschichten von Samstag auf Sonntag können – auf Wunsch der Arbeitnehmer – gestrichen werden. Vielleicht waren es die Arbeiterinnen, die nunmehr zumindest eine Weile mit ihren Kindern verbringen können. Der Lohn wird um fünf Kronen pro Tag erhöht, den Arbeitern wird eine allgemeine Begnadigung zugesprochen, sie werden für den Streik nicht bestraft.

Am Montag, den 28. Juni, beginnen die Brünner Weber wieder mit der Arbeit. Die Nachricht geht um die Welt.

Der Baron von Spens-Boden, übrigens mit Vorfahren aus Schottland, erhält eine Reihe von Anerkennungen und die Ehrenbürgerwürde der Stadt Brünn. Ein Jahr später wird er als Justizminister der österreichischen Monarchie nach Wien berufen.

Keine Rettung für Vereinshaus

Ich stehe also und glotze, es ist kaum zu glauben. Es ist derselbe Garten wie auf diesem historischen Foto vom Mai 1899, voller Frauen in altmodischen langen Kleidern, festlich gekleideten Männern in ihrem einzigen weißen Hemd, dem lauten Zwitschern von Hunderten von Arbeitern, Versammlungen, Lebensmittelverteilung und Gott weiß was von allem.

Im Kino im Kopf fällt der Vorhang. Es herrscht völlige Stille, nur zwei Meter hohes Unkraut im Garten raschelt, als wären wir nicht mitten in einer geschäftigen Stadt, nicht einmal ein lebender Vogel auf der Straße. Ich gehe noch ein paar Schritte weiter, im selben Jahr fand dort der österreichische Sozialistenkongress statt, davon das nächste Mal. Das Haus steht wie vor hundert Jahren, renovierungsbedürftig, aber doch noch einigermaßen fest. Der Eingang zum Haus zugenagelt, bekritzelt, also gucke ich durch die schmutzige Scheibe: Es sieht innen so aus als ob die Haupttreppe eingestürzt wäre.

Es gab ein paar junge Leute, Idealisten, die nach 1989 versuchten, das Denkmal zu retten oder zumindest den erbärmlichen Zustand zu dokumentieren. Es half nichts. Die Stadt verkaufte das Haus für vier Millionen tschechische Kronen an eine der heutigen Bauhyänen, genannt Developer. Allein das Grundstück ist ein Mehrfaches wert. Es wird gemunkelt, dass der Developer das zuständige Ministerium in Prag gebeten hat, den Status des Denkmalschutzes zurückzunehmen. In Brünn hatte er um die Erlaubnis gebeten, die jahrhundertealten Kastanienbäume aus Sicherheitsgründen ein wenig zu stutzen, obwohl das Ganze von einer zwei Meter hohen Mauer umgeben ist. Später stellte sich heraus, dass er die Kastanien komplett gefällt hatte. Es gilt als sicher, dass er das Gebäude bewusst baufällig werden lässt, damit es keine Hilfe mehr gibt. Vorsorglich kündigt er jetzt schon den Bau eines modernen Wohnhauses mit 50 Wohnungen und 90 PKW-Stellplätzen, oder umgekehrt? Niemand kann helfen, weder die Handvoll Jugendlicher noch der Journalist, der die nicht minder spannende Geschichte des Hauses ab 1918 in der Tschechoslowakei dokumentierte. Der Brünner Denkmalschützer stottert, vielleicht eine Gedenktafel. Weiß der Himmel.

Ich weiß nicht wie, aber ich tauche aus der Vergangenheit an der Straßenbahnhaltestelle auf, da stehen Menschen, ich brauche ein paar Sekunden, um aus meinen Träumen aufzuwachen und im 21. Jahrhundert anzukommen. Manchmal genügen nur ein paar Schritte, um ein ganzes Jahrhundert zu überwinden.

Drei Jahre später besuche ich den Ort wieder. Das Haus wurde dem Erdboden gleichgemacht, am Platz stehen schwere Baumaschinen.

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