War der Autor des Bestsellers „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ ein Verräter? Eine Biografie heizt eine alte Debatte neu an.
Es ist das Schicksal von berühmten Menschen, über die man nur wenig weiß, dass sich um sie umso mehr Mythen ranken. Zu dieser Kategorie Menschen gehört der größte lebende tschechische Romancier Milan Kundera. Der biografische Klappentext seiner letzten Bücher beschränkt sich auf zwei lapidare Sätze: „Milan Kundera ist in der Tschechoslowakei geboren. Seit 1975 lebt er in Frankreich.“
Worüber Kundera schweigt
Am Freitag erscheint in Tschechien die erste Kundera-Biografie, die schon vorab für Furore sorgt. Der Autor Jan Novák legt ein mit 900 Seiten opulentes Werk vor. Es endet mit der Ausbürgerung Kunderas nach Frankreich. Für mehr habe ihm derzeit die Kraft gefehlt, entschuldigt sich der Autor in der Prager Wochenzeitung Respekt.
Dass es dennoch so ein dickes Buch wurde, hat mit dem Bemühen Nováks zu tun, all das zu erzählen, worüber Kundera selbst seit ewigen Zeiten beharrlich schweigt. Seit den 1980er-Jahren gibt er keine Interviews mehr. Wenn er ganz selten seine tschechische Heimat besuchte, dann nur inkognito.
Novák sieht den Grund dafür in Kunderas Absicht, „zielgerichtet seine eigene Vergangenheit zu verschleiern“. Logisch, dass der Autor der Biografie in diesem Zusammenhang lang und breit auf eine für Kundera wenig rühmliche Geschichte zu sprechen kommt: Kundera habe 1950 als Student im stalinistischen Prag einen antikommunistischen Widerstandskämpfer ans Messer der Staatssicherheit geliefert. Der sei zum Tode verurteilt, später zu 14 Jahren Schwerstarbeit in einem Uranbergwerk „begnadigt“ worden. Respekt hatte Kundera zu diesem Fall einen Fragenkatalog per Fax nach Paris geschickt, den der Romancier jedoch nicht beantworten mochte. Er sprach wütend von einem „Attentat auf einen Autor“.
Manchmal ist das Mühsal des Seins offenbar unerträglich, hieß es da in Anlehnung an sein berühmtestes Buch. Doch Kundera bekam Schützenhilfe anderer wichtiger Autoren aus aller Welt, die freilich nie in einem stalinistischen Land gelebt hatten und die Praktiken dort bestenfalls vom Hörensagen kannten.
Auch der damals schon altersmilde Ex-Präsident Václav Havel stellte sich vor seinen Schriftstellerkollegen: „Auch wenn Milan Kundera tatsächlich bei der Polizei gemeldet haben sollte, dass sich da irgendwo ein Spion versteckt halte – was er meiner Meinung nach nicht getan hat – muss man die damalige Zeit in Betracht ziehen.“ Havels Wort wog schwer. Er und Kundera hatten sich einst über die Rolle des Prager Frühlings öffentlich in Essays zerstritten. So schwer, dass Havel angeblich Freude darüber empfunden haben soll, dass der Nobelpreis für Literatur 1984 an den tschechischen Lyriker Jaroslav Seifert und nicht an den favorisierten Kundera verliehen wurde. Als Havel später Kundera einen hohen tschechischen Orden ans Revers heften wollte, schickte der seine Frau auf die Prager Burg. Er selbst blieb der Ehrung vergnatzt fern.
Mit den Herrschenden arrangiert
2009 legte die Zeitung Lidové noviny nach und veröffentlichte ein neues Dokument, das den Verdacht gegen Kundera verstärkte: das Manuskript einer Vorlesung des damaligen stellvertretenden Ministers für Nationale Sicherheit, Jaroslav Jerman, aus dem Jahre 1952. Dort schilderte Jerman, wie es immer besser gelinge, „Dank der Zusammenarbeit mit unseren Bürgern unsere Feinde zu entlarven“. Als Beispiel verwies er „auf den Studenten Kundera“ und dessen Anzeige.
Dass die Affäre weite Teile von Nováks Kundera-Biografie füllt, hat die Verteidiger des Romanciers neuerlich auf den Plan gerufen. Etwa die Literaturchefin der Lidové noviny, Jana Machalická, die am Dienstag schrieb, Novák äußere sich „voller Hass“ über Kundera. Was Novák vermutlich nicht mal bestreiten würde, dessen Familie nach seinen Worten „unter dem Kommunismus gelitten“ hat und 1969 in die USA ausgewandert ist.
Nováks Biografie wird die bis heute unerledigte Aufarbeitung des Verhaltens der tschechischen Intellektuellen nach dem kommunistischen Putsch 1948 und dem zerschlagenen Prager Frühling 1968 neu anheizen. Kundera ist bei Weitem nicht der Einzige, der fest an den Kommunismus glaubte und ihm peinliche Loblieder sang. Novák schreibt, Kundera habe sich „bis in die 1970er-Jahre mit den Herrschenden arrangiert“ und sein Leben lang „gelogen und andere perfekt manipuliert, um sein Versagen zu vertuschen“.
Und Kundera? Er wird wohl nicht von einem „Zweiten Angriff auf einen Autoren“ sprechen. Er hat sich mit Tschechien irgendwie ausgesöhnt: Vor einem halben Jahr hat er das Angebot von Premier Andrej Babiš angenommen und ist seither wieder auch „tschechischer Staatsbürger“. Womöglich erinnert er daran, dass der Name „Jan Novák“ in Tschechien für den in Deutschland berühmten „Otto Normalverbraucher“ steht. Nach dem Motto: Was kümmert es die stolze Eiche, wenn sich (irgend) ein Wildschwein an ihr wetzt.