Illustration: Sudetistanisches Industrieidyll - Zeichnung: LE/Jiří Bernard

Vor einer Woche war ich im Rahmen meiner Vortragsreisen durch die Republik nach langer Zeit wieder in Sudetistan. Mich hatten ein paar Jungs aus dem Gymnasium in Schlackenwerth (Ostrov) bei Karlsbad (Karlovy Vary) eingeladen. So hatte ich die Gelegenheit, in ein anderes, doch in seinem Wesen sehr bekanntes, Umfeld Einblick zu erhalten.

Für meine Bedürfnisse habe ich mir Sudetistan in zwei Gebiete aufgeteilt. Eines davon nenne ich prosaisches Sudetistan und das andere poetisches Sudetistan.

Das prosaische Sudetistan besteht aus den Großstädten – Komotau (Chomutov), Brüx (Most), Teplitz (Teplice), Aussig (Ústí). Städte, die zwar reicher sind als die Dörfer, aber verrufene Stadtteile haben und vor allem im Empfinden der Menschen fast gleich sind. Das Stadtleben bedeutet in Sudetistan eben nicht viel. Über das prosaische Sudetistan schrieb ich hier schon öfter. Es wird Zeit, das poetische Sudetistan näher zu beleuchten.

Das poetische Sudetistan defi niere ich als kleinere Gemeinden in der Umgebung sudetistanischer Zentren, aber vor allem als große Regionen, die noch trostloser sind als der Rest Sudetistans. Beispiele dafür wären der Schluckenauer Zipfel, Erzgebirgsdörfer, oder auch das Gebiet um das bereits erwähnte Schlackenwerth.

Schon allein der Weg dahin ist ein Traum für Abenteurer. Bei einer Anreise von Prag oder Aussig sieht man Sudetistan in all seiner Prach. Nunja, Pracht – man sieht es jedenfalls. Man fährt vorbei am Kraftwerk in Ladowitz (Ledvice), dem Kohlefördergebiet in Kommern (Komořany) und dem Kraftwerk in Brunnersdorf (Prunéřov), das Herz schlägt im Fünf-Jahres-Plan-Takt.

Man steigt an einem Ort aus, der durch den Herbst wohl noch an Trübsinn gewinnt. Ein kleiner Bahnhof mit wenigen Menschen. Aber schon begrüßen mich die Jungs vom Gymnasium. Nach wenigen Gesprächsminuten ist mir klar, dass diese Jungs einen unglaublichen Überblick über das politische Geschehen haben und ihre Ansichten wohl zu denen der sprichwörtlichen Prager Kaffeehäuser gehören. Es ist unglaublich, wie das Internet und die sozialen Netzwerke die jungen Leute unabhängig von ihrem Wohnort beeinflussen und sogar in Sudetistan dafür sorgen, dass sich Liberale heraus bilden, die sich wünschen, dass ihre Region nach mehr strebt, als nach 12-Stunden-Schichten, deren Entlohnung dem tschechischen Durchschnittslohn so nah ist, wie Sudetistan den entferntesten Galaxien.

Die Jungs zeigten mir ihre Stadt – den Schlossgarten, der mit europäischen Geldern erneuert wurde, den alten Marktplatz, auf dem 1938 die Besetzung des Sudetenlandes gefeiert wurde, und auch den neuen Stadtplatz mit seinem opulenten, realsozialistischen Kulturhaus.

Wir gingen durch das Wohngebiet, wo die Jungs erzählten, in welcher Kneipe sie mit ihren Freunden Bier trinken, was das hier kostet und dass es sonst nichts zu tun gibt. Hier aufzuwachsen ist nicht gerade traumhaft. Vor allem ist es aus Schlackenwerth ein langer Weg – überallhin. Karlsbad bietet nicht viel und allein der Weg nach Prag ist ein Ganztagesausflug.

Der Politik-Vortrag war wie üblich überlaufen. Die Jugendlichen in den Regionen interessiert „was es Neues gibt in Prag“. Sie wollen zuhören und wollen, dass man ihnen zuhört. Oder vielleicht war der Vortragsbesuch auch durch die Lehrer angeordnet. Das weiß ich nicht.

Das war also mein Ausflug nach Schlackenwerth, in das poetische Sudetistan. Und was blieb mir davon im Gedächtnis?

Im nahen Karlsbad findet im Sommer das traditionsreiche internationale Filmfestival statt. Die Leere des hiesigen Lebens beschrieb für mich am besten die Aussage eine Gymnasiasten: „Die größte Aktion seit dem Filmfestival war, als sie hier einen Lidl eröffneten.“

In Sudetistan passiert nichts. Und so gefällt es den Leuten hier.

Dominik Feri (20) ist Jurastudent, nordböhmischer Patriot und sitzt im Stadtrat von Teplice (Teplitz-Schönau). In den Regionalwahlen kandidierte er im Kreis Aussig auf dem letzten Listenplatz der TOP 09 und erhielt die meisten Präferenzstimmen im Kreis. Seine Kolumne finden Sie exklusiv im LandesEcho und auf landesecho.cz. Dieser Artikel erschien im LandesEcho 11/12 2016.

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