Am vergangenen Freitag diskutierte die LE-Redaktion gemeinsam mit Experten über die Rolle des deutsch-tschechischen Grenzgebiets für die europäische Integration. Im Rahmen der Veranstaltung wurden außerdem die Sieger des diesjährigen LandesEcho-Essaywettbewerbs ausgezeichnet.

Wie sieht der Alltag in der deutsch-tschechischen Grenzregion aus? Inwiefern ist sie ein Treiber für die europäische Integration und welche Rolle spielt dabei die deutsche Minderheit in Tschechien? Diese Fragen diskutierte die LE-Redaktion, vertreten durch Chefredakteur Steffen Neumann und ifa-Redakteur Manuel Rommel, mit den beiden Referenten Tomáš Lindner von der Zeitschrift RESPEKT und Jan Kvapil, Germanist an der Jan-Evangelista-Purkyně-Universität Ústí nad Labem und Mitbegründer der Bewegung „Samstage für die Nachbarschaft“. Die Veranstaltung fand online statt und wurde live auf Facebook übertragen.

Die EU auf dem Prüfstand

Die Pandemie hat das Funktionieren der europäischen Staatengemeinschaft auf eine harte Probe gestellt. Tomáš Lindner zieht dennoch eine positive Bilanz: Die Ursache für unkoordinierte Grenzschließungen und langwierige Entscheidungsprozesse sieht er nicht in einem grundsätzlichen Defizit der EU, sondern in der Neuheit der Sache sowie der institutionellen Komplexität der EU. „Kein Land wusste wirklich, wie man richtig damit umgehen soll“, verteidigt er die Staatengemeinschaft. „Im Volksmund werden die Grenzschließungen häufig als ein Versagen der EU betrachtet, aber im Grunde war das ein Scheitern der Nationalstaaten“, meint Jan Kvapil dazu.

Dennoch beobachtet Lindner seit Ausbruch der Pandemie viele positive Entwicklungen. Mit einem Rettungsfonds sei es der EU z. B. gelungen, die Mitgliedsstaaten in der Pandemie finanziell zu unterstützen. Dennoch ist auch er davon überzeugt, dass man den Zustand der EU „nicht zu rosig malen“ sollte. Aktuell macht die Blockade des EU-Haushaltes durch Polen und Ungarn die Schwierigkeiten der Zusammenarbeit deutlich. „Man sollte in diesen Streitigkeiten, die zur EU gehören seit es sie gibt, nicht den Blick für das Größere verlieren. Mit dem Rettungsfonds wurde ein großer Sprung in der europäischen Integration getan“, so Lindner.

Protest gegen geschlossene Grenzen

Wie eng Deutschland und Tschechien miteinander verbunden sind, zeigt sich vor allem in der deutsch-tschechischen Grenzregion. Dort spielte die Grenze bis zum Beginn der Corona-Pandemie im alltäglichen Leben kaum noch eine Rolle. Gemeinden und Vereine arbeiten eng zusammen, seit dem Beitritt Tschechiens zur EU sei eine „echte Nachbarschaft“ entstanden, so Jan Kvapil. Dazu würden auch die vielen grenzüberschreitenden Berufspendler, vor allem aus Tschechien nach Deutschland, beitragen. „Der Alltag ist so bunt und individuell, dass man das nicht universal beschreiben kann. Grenzüberschreitende Familienverbindungen sind heute keine Rarität mehr wie noch vor 20 Jahren“, fügt Kvapil hinzu.

Eine große Zäsur erfuhr das Leben im Grenzgebiet im Frühjahr, als die Grenzen im Zuge der Maßnahmen gegen die Ausbreitung der Corona-Pandemie zeitweilig von tschechischer Seite aus geschlossen wurden. Für die deutsch-tschechische Zusammenarbeit ist Corona eine enorme Herausforderung, sagt Kvapil. Um trotz allem grenzüberschreitende Begegnungen weiter zu fördern, rief Jan Kvapil im Frühjahr gemeinsam mit Freunden die Initiative „Samstage für die Nachbarschaft“ ins Leben. Mit Treffen und Spaziergängen an der deutsch-tschechischen Grenze gelang es ihnen, die Thematik der Grenzschließungen und gelebte Alltagsrealitäten in der Grenzregion in den Fokus medialer Aufmerksamkeit zu rücken. „Wir waren selbst überrascht, welchen Umfang die Bewegung gewonnen hat“, so Kvapil.

Rolle der deutschen Minderheit

Am Ende der Diskussion widmeten sich die beiden Gesprächspartner noch der Frage, welche Rolle speziell die deutsche Minderheit im Dialog der beiden Länder spielen kann. Tomáš Lindner beobachtet in den letzten Jahren die Entstehung vieler Initiativen, die Menschen auf beiden Seiten der Grenze vernetzen und an die Geschichte der deutschen Minderheit anknüpfen. Für Jan Kvapil sind Bildung und Sprache Schlüsselelemente für das zukünftige Zusammenlebes im Grenzgebiet: „Wenn man den Nachbarn tatsächlich kennenlernen möchte, dann geht es nicht ohne die Sprache und den kulturellen Hintergrund des Nachbars.“

Budweis holt Triple-Sieg beim LE-Essaywettbewerb

Im Anschluss an die Diskussion wurden in einer digitalen Preisverleihung die Gewinner des LandesEcho-Essaywettbewerbs verkündet. Insgesamt 17 Studierende von verschiedenen Universitäten in Tschechien reichten Essays zum Thema „Europäische Integration und Partizipation: Wie gelingt das?“ ein. Eine neunköpfige Fachjury wählte die drei besten Essays aus.Europäische Integration und Partizipation. Wie gelingt das?

Obwohl die Bewertung über die Siegertexte anonymisiert stattfand, kommen alle Preisträger von der Südböhmischen Universität in Budweis (České Budějovice): Den dritten Platz belegte die 24-jährige Studentin Anna Hrabáková, die in ihrem Essay besonders auf die Rolle der Sprache im Kontext der europäischen Integration einging. Der zweite Platz ging an den 23-jährigen Studenten Jakub Hotový, der sich in seinem Essay mit der Frage eines gemeinsamen europäischen Heers auseinandersetzte. „Jakob Hotový hat sehr überzeugend dargelegt, warum eine gemeinsame Politik auf militärischer Basis für eine weitere Integration der Länder der Europäischen Union nötig wäre“, begründete Steffen Neumann die Entscheidung der Jury. Über den ersten Platz darf sich die Studentin Michaela Kolářová freuen, die unter dem Titel „Grenzüberschreitende Zusammenarbeit als ein Helfer der europäischen Integration“ einen besonderen Schwerpunkt auf die Kooperation zwischen Deutschland und Tschechien legt. In diesem Kontext beschreibt sie die deutsche Sprache als „Vermittler“ im Dialog zwischen den beiden Ländern. Dabei ist es ihr gelungen, nicht nur auf inhaltlicher Ebene zu argumentieren, sondern auch persönliche Erfahrungen einzubringen, so Manuel Rommel.

Die Sieger dürfen sich über attraktive Preise freuen: Neben Buchpreisen war der erste Platz mit 6.000, der zweite mit 4.000 und der dritte Platz mit 2.000 Tschechischen Kronen dotiert. Darüber hinaus bekommt der Verfasser des Siegeressays bei einem Redaktions-Schnuppertag die Möglichkeit, hinter die Kulissen des LandesEcho zu schauen. Außerdem werden die Sieger-Beiträge in der LandesEcho-Printausgabe abgedruckt und die besten drei Schreiber erhalten ein Jahresabonnement des Magazins.

Die Essays erscheinen ab der Januar-Ausgabe im LandesEcho.

Ein besonderer Dank gilt der Deutschen Botschaft Prag, die den Schreibwettbewerb finanziell unterstützte, sowie allen weiteren Projektpartnern.


Falls Sie die Online-Veranstaltung verpasst haben sollten, haben Sie hier die Gelegenheit, sich die Diskussion sowie die Preisverleihung nachträglich anzuschauen:


 

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