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Prager Hausnummern: Kompliziertes Erbe der Habsburger – Ahoj aus Prag!

Tschechien ist eines der wenigen Länder, in denen es zwei Hausnummernsysteme gleichzeitig gibt. Foto: Detmar Doering

Tschechien ist eines der wenigen Länder, in dem es zwei Hausnummern gleichzeitig gibt. Wie das gekommen ist und was die Nummern bedeuten, erklärt unser Autor von „Ahoj aus Prag!“.

Keine Frage: Die Kartusche aus feinem Stuck mit dem hübschen Löwenkopf macht schon etwas her. Sie befindet sich über dem Türsturz des um 1905 gebauten neobarocken Mietshauses in der Trojanova 1993/5 im Süden der Neustadt. Aber was bedeutet die Inschrift „Čís 1993“ in der Mitte? Jetzt ist vielleicht die Zeit gekommen, das gar nicht so leicht verständliche System von Hausnummern in Prag bzw. ganz Tschechien zu erklären.

Hausnummern – eine relativ neue Idee

Foto: Detmar Doering„Čís“ steht hier nämlich für „Číslo“, was das tschechische Wort für „Nummer“ ist. Manchmal genügt auch das einfache „Č“, wie man auf dem Bild links, dem Eingang des neobarocken Hauses am Masarykovo nábřeží 238/20 erkennen kann. Dass Häuser nummeriert werden und eine Hausnummer sichtbar an der Fassade tragen, ist zwar für das Auffinden eines Hauses, das man aus irgendeinem Grunde besuchen will, sehr praktisch, ist aber historisch gesehen eine relativ neue Idee. Im Mittelalter hatte man allenfalls Straßennamen. Prag war aber nach heutigen Maßstäben klein und überschaubar. Zudem gab es Prag im eigentlichen Sinne noch nicht, denn die Stadt wurde erst 1784 aus den bis dato recht selbstständigen Städten Altstadt, Neustadt, Kleinseite und Burgstadt zusammengesetzt. Da fand man sich auch ohne Nummern noch so einigermaßen zurecht.

Foto: Detmar DoeringTrotzdem stellte sich ab dem 14. Jahrhundert (der Blütezeit Prags unter Karl IV.) ein gewisses Gefühl der Unübersichtlichkeit ein. Es tauchten die ersten Hausschilder auf, die der Identifikation des Hauses für den Suchenden dienten, was aber auch nie so recht zielführend war. Die Häuser bekamen Schilder über der Tür angebracht, die zunächst meist auf Holz gemalt waren. In der Blütezeit des Hausschildes, dem Zeitalter des Barocks, wurden sie meist in reich ornamentierte Kartuschen aus Stuck eingefügt – mal gemalt, mal als Relief. Das waren oft regelrechte Kunstwerke und Statussymbole, wie man es etwa hier an dem passend Haus zur Blauen Traube (dům U Modrého hroznu) genannten Gebäude in der Husova 227/15 (Altstadt) sehen kann. In einer Nische sieht man zwei lebensgroße Männer als Relief eine weit überlebensgroße blaue Traube transportieren. Das Ganze entstand zwischen 1726-1737 als hier zwei kleine gotische Häuser zu einem großen barocken Haus zusammengelegt wurden.

Foto: Detmar DoeringSolche Hausschilder hatten meist einen Bezug zu dem Gewerbe, das in dem jeweiligen Haus betrieben wurde (als eine Art Werbung). Die drei Ringe, die wir bei dem passend Haus zu den Drei Goldenen Ringen (dům U Tří zlatých prstenů) genannten, um 1840 klassizistisch modernisierten Gebäude aus dem Spätbarock sehen, könnten also auf einen Goldschmied als früheren Besitzer hindeuten. Hausschilder konnten aber auch andere Motive (Heilige, astrologische Symbole, Tiere, etc.) beinhalten. Es waren Bilder, die das Haus irgendwie einzigartig und erkennbar machen sollten. Da das aber nicht verpflichtend war, war aber nicht garantiert, dass das Haus, was man finden wollte, auch so ein Hausschild zum eindeutigen Erkennen hatte. Wegen Namensgleichheiten konnten zum Beispiel auch Verwechslungen entstehen. So gab es etwa etliche Gasthäuser, die sich „Zum Schwarzen Pferd“ (U Černého Koníčka) nannten und eine entsprechende Darstellung eines schwarzen Pferds als Hausschild hatten.

Maria Theresia ordnete Einführung von Hausnummern an

Foto: Detmar DoeringNoch gravierender war das Problem bei Heiligenmotiven, bei denen vor allem die Maria so viele unzählige Male mit dabei war, dass sie aufhörte einem Alleinstellungsmerkmal auch nur nahe zu kommen. Hier sehen wir als Beispiel das von einer üppigen Barockkartusche mit Putten umrahmte kleine Marien-Hausschild des Hauses U Voglů am Malostranské náměstí 262/9 (Kleinseitner Ring) aus dem 18. Jahrhundert. Hausnummern aus Zahlen sehen zwar nicht so hübsch aus wie Hausschilder mit Marien- oder Pferdebildern, sind aber unverwechselbarer und eindeutiger zu identifizieren. Und wenn man den Namen oder das Hausschild kannte, wusste man noch lange nicht, wo sich das Haus befand. Man musste sich wahrscheinlich irgendwie durchfragen. Dass zu Beginn des 18. Jahrhunderts in Teilen des Habsbugerreichs in einigen Städten sogenannte Häuserschematismen (so etwas wie Straßen- und Häuserverzeichnisse) veröffentlicht wurden (in Wien ab 1701), half ein wenig beim Auffinden – vorausgesetzt man war kein Analphabet, was aber ein Großteil der Bevölkerung damals noch war. Kurz: Es bestanden in jeder Hinsicht Möglichkeiten zur Optimierung in Sachen Hauskennzeichnung.

Foto: Detmar DoeringDieses Projekt nahm in den Zeiten der Aufklärung Schwung auf. Im Jahre 1770 ordnete Kaiserin Maria Theresia, eine aufgeklärte Absolutistin, die Einführung von Hausnummern im ganzen Reich und beginnend mit Wien an. Das war komplizierter als man heute denken würde und folglich war das Nummernsystem noch etwas verwirrend für heutige Beobachter. Hausnummern beruhen auf Voraussetzungen, die damals zunächst noch nicht existierten und erst im Absolutismus geschaffen wurden. Zur Erfassung und Nummerierung (anfänglich machten das Beamte mit Pinsel und Farbe, wie dereinst bei 4711 in Köln) muss man ja erst ein Bevölkerungs-, Eigentümer- und Häuserregister haben. Unmengen von kleinen Kommissionen wanderten 1770/71 durch die Lande, klopften an Türen und erfassten, was sie erfassen mussten. In der Reihenfolge, in der erfasst wurde, wurde auch die Nummer vergeben. Als das fertig war, entwickelte sich langsam so etwas wie moderne Grundbücher, die dann auf Erlass von Kaiser Franz II. 1794 als Hauptbücher im Habsburgerreich verpflichtend wurden. Fortan wurden die Nummern bei Neubauten in der zeitlichen Reihenfolge des Baus in einer Stadt vergeben. Diese Art der Zählung nennt man Konskriptionsnummer. Oberhalb links sieht man ein Beispiel in der Záhřebská 876/29 in Prag-Vinohrady mit der Nummer 876 in Glas graviert (Ende 19. Jahrhundert).

Konskriptionsnummer und Orientierungsnummer

Foto: Detmar DoeringJa, die Konskriptionsnummer, für die es noch keine staatlich festgelegten Schilder gab, befeuerte die künstlerische Phantasie von Architekten, die sich bei der Kreation von Stuckornamenten nur so übertrafen – wie etwa bei dem Haus mit der im Jugendstil beadlerten „Čís 1659“ in der Laubova im Stadtteil Žižkov (Bild rechts). Aber: Beim Suchen einer Adresse war dieses System, das zwar die bürokratische Verwaltung (z. B. Steuer- und Abgabenerhebung) vereinfachte (was auch zunächst das Primärziel war), für den suchenden Bürger nicht wirklich hilfreich. Hausnummern, die chronologisch-numerisch aufeinander folgten, konnten in Wirklichkeit räumlich weit entfernt voneinander liegen. Das riesige Bevölkerungswachstum und das Anwachsen der Städte verlangte nach einem anderen Nummernsystem. Deshalb führte man im Habsburgerreich 1862 zusätzlich die sogenannte Orientierungsnummer ein. Das ist die heute auch in Deutschland übliche Hausnummer, bei der die Häuser in numerischer Reihenfolge in der jeweiligen Straße „aufgereiht“ sind. Mit einem solchen System konnte sich jeder mit Hilfe des Straßennamens und einer Zahl in einer Stadt orientieren. Das ist der Grund, warum man sie Orientierungsnummer nannte. Das System wurde wechselseitig praktiziert, d.h. die gerade Ziffern auf der einen, die ungeraden auf der anderen Seite der Straße. Das war keine Habsburger Erfindung, sondern wurde erstmals in Amerika (genauer: in Philadelphia 1780) eingeführt und trat dann 1805 von Paris aus seinen Siegeszug durch Europa an.

Foto: Detmar DoeringAber was macht Prag so besonders und anders als andere europäische Städte? Nun, Tschechien gehört zu den wenigen Ländern, die beide Hausnummersysteme, die Konskriptionsnummer und die Orientierungsnummer, heute noch gleichzeitig verwenden. Auf Tschechisch: Číslo popisné und Orientační číslo, heutzutage meist čp. und čo. abgekürzt. Man kann die heutigen Nummernschilder leicht unterscheiden. Wie fast überall in der Welt handelt es sich um kleine und landesweit uniform gestaltete Metallschilder, die mit Emaille beschichtet und weiß beschriftet sind. In Prag/Tschechien sind die Schilder der Konskriptionsnummer rot und die Orientierungsnummern blau emailliert – so wie hier in der Ostrovní 225/1 in der Neustadt (Nové Město) bei einem Gebäude des Nova Scena-Theaters.

Siegeszug der Blech-Plaketten

Foto: Detmar DoeringDiese einfache Methode der uniform gestalteten Emaille/Blech-Schildchen ist aber relativ neu. Im 19. Jahrhundert, als die Sache so richtig konsequent in der Stadt eingeführt wurde, überließ man die konkrete Ausgestaltung der Nummerierungspflicht noch der eigenen Kreativität der Hausinhaber. Deshalb sieht man an den Türen älterer Häuser manchmal kleine Kunstwerke – oft in Stuck (dabei oft an alte Hausschilder anspielend), aber auch in Glasgravur oder auch Buntglas. Letzteres macht sich besonders hübsch, wenn der Eingangsbereich von innen beleuchtet ist, wie man links am Beispiel des Hauses in der Americká 415/36 (ein Neorenaissancegebäude, ca. 1890) sehen kann.

Foto: Detmar DoeringMeistens sieht man dabei nur die Konskriptionsnummer. Spätestens mit der Einführung der Orientierungsnummer erwies sich nämlich die abschraub- und austauschbare Kleinplakette als wesentlich praktischer als eine große Stuckarbeit. Denn was ist, wenn sich Hausnummern ändern? Rechts sieht man eines der wenigen Häuser, bei denen sowohl Konskriptions- als auch Orientierungsnummer schon beim Bau des Hauses in Stuck fest in den Türsturz gegossen wurden. Heute hat das Haus die Nummer Gorazdova 333/18 (wie man an den hier hineinkopierten Blechplaketten sieht). Als das Haus 1905 gebaut wurde, befand man sich noch in der Podskalská 333/72. Die Straße wurde 1947 umbenannt und schon kurz nach dem Bau des Hauses hatte sich die Straße durch die Anlage des nahen Palackého náměstí (Palacký-Platz) so verkürzt, dass die Orientierungsnummer 72 in 18 umgewandelt werden musste. In Blech stimmt das Ganze, während der Stuck weiterhin die alte Nummer verewigte. Kuriose Beobachtung: Die Stuck-Orientierungsnummer wird nicht „čo“, sondern „čn“ abgekürzt. In den Anfängen sprach man nämlich oft salopp von der Neuen Nummer (čislo nové).

Foto: Detmar DoeringAber: Die Konskriptionsnummer blieb stets, wie sie war, nämlich 333 – genau wie etwa die bei dem rechts abgebildeten Haus in der Varšavská 1338/15 (ca. 1880/90) in Prag 2. Das Fazit der Geschichte: Die Konskriptionsnummer ist äußerst langlebig , weshalb es zumindest bis zu dem Zeitpunkt, an dem normierte Metallplaketten angebracht wurden, sinnvoll oder praktikabel war, sie in die Architektur des Hauses künstlerisch zu integrieren. Bei der Orientierungsnummer ist das eindeutig nicht der Fall. Nun hat sich aber die wesentlich praktischere Orientierungsnummer am Ende überall in der Welt durchgesetzt. In der Habsburger „Mutterstadt“ Wien wurden sie in einer Reform 1958 zwar formell beibehalten, de facto befindet sich seither an den meisten Fassaden nur noch die Orientierungsnummer. Manchmal ist die Konskriptionsnummer anscheinend noch innen im Hausflur angebracht.

Elemente der Verwirrung

Foto: Detmar DoeringNur in Tschechien und der Slowakei feiert die Konskriptionsnummer immer noch fröhliche Urständ – wenngleich immer mit der Orientierungsnummer verbunden, um die Orientierungslosigkeit der Menschen in den Straßen zu minimieren. Ganz gelingt das nicht immer, denn manchmal wird in irgendwelchen Verzeichnissen die Reihenfolge der Nummer (etwa 12/2100 statt 2100/12) vertauscht. In der Regel ist die Konskriptionsnummer die höhere Ziffer und damit leicht identifizierbar (Beispiel rechts, das Neo-Rokokohaus in der Římská 1276/36). Aber es gibt auch Häuser, bei denen beide Nummern klein sind (etwa 14/13). Da wird es schwieriger. Erst, wenn man vor dem Haus steht, kann man die Nummern wegen der Farben der Schilder klar zuordnen. Das alles mag man kurios finden. Aber man verdankt der Weiterexistenz der Konskriptionsnummer immerhin auch das Weiterleben ausgesprochen hübscher und manchmal geradezu in künstlerischer wertvoller Form gestalteter Nummerierungen als integrales architektonisches Element in alten Häusern.

Foto: Detmar DoeringAch ja, bevor man bei älteren Gebäuden jede in Stuck gearbeitete hohe Nummer über dem Türsturz für eine Konskriptionsnummer hält, sollte man darauf achten, dass das wirklich ein „Čís“ oder „Č“ davorsteht. Es gibt nämlich noch ein zusätzliches Element der Verwirrung in Sachen „Nummern auf Häusern“. Vor machen Ziffern steht nämlich die Abkürzung L.P., was eine Hausnummer (ganz gleich, welche) ausschließt. Die Abkürzung steht für léta Páně, was so viel heißt wie: Im Jahre des Herren. Und das bezieht sich auf das Jahr der Fertigstellung des Hauses, das hier zelebriert wird. In dem links gezeigten Beispiel, einem neobarocken Haus in der Římská in Vinohrady, ist das Baujahr 1904 und nicht die Konskriptionsnummer festgehalten, während die Hausnummer 1248/34 lautet. So kompliziert kann es hier in Prag mit der Nummeriererei bei Häusern sein.

Dieser Beitrag ist zuerst auf Ahoj aus Prag! erschienen.


Ahoj aus PragAhoj aus Prag! Seit September 2016 leben wir berufsbedingt in Prag. Wir – eigentlich Rheinländer – haben sie schon voll in unser Herz geschlossen, diese Stadt! Deshalb dieser Blog, in dem wir Fotos und Kurzberichte über das posten, was diese Stadt so zu bieten hat und was wir so erleben. Wir, das sind:

Lieselotte Stockhausen-Doering und Detmar Doering

… und unser Hund Lady Edith! Wer sich in Prag einmal umschauen möchte, wird auf diesem Blog nach einiger Zeit sicher Interessantes finden, was nicht jeder zu sehen bekommt, der die Stadt besucht. Viel Spaß beim Lesen!

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