Der Blick auf den Nachbarn ist nicht immer frei von Extremen. Foto: privat

Als Tschechien das Angebot Deutschlands ablehnte, Covid-Patienten in Krankenhäusern nahe der Grenze zu behandeln, hielt unser Autor Hans-Jörg Schmidt das für Nationalstolz an der falschen Stelle und wähnte dahinter den tschechischen Minderwertigkeitskomplex. Da ist zwar was dran, aber ganz so einfach ist es dann doch nicht, meint in einer Antwort der langjährige Deutschland-Korrespondent für Hörfunk und DeníkN, Pavel Polák.

Ich habe mich schon immer darüber gewundert, woher die nachwendliche Verbitterung und Unzufriedenheit der Ostdeutschen kommt, die sich bald in eine verträumte Nostalgie und Sehnsucht nach den guten alten Zeiten verwandelte. Das Problem der Ostdeutschen bestand und besteht eigentlich bis heute darin, dass sie sich mit Westdeutschland vergleichen. Würden sie sich mit jeglichem anderen Land des damaligen Ostblocks vergleichen, ginge es ihnen wohl bedeutend besser. Aber was nützt es, ihre Selbstwahrnehmung wird durch Westdeutschland bestimmt.

Den Tschechen geht es dabei sehr ähnlich. Auch sie blicken Richtung Westen. Sie vergleichen sich nicht mit Polen oder der Slowakei, sondern eben mit Deutschland, und suchen dort den Maßstab für ihre Erfolge und gegebenenfalls Misserfolge. Nur ein paar Beispiele, was die tschechische Aufmerksamkeit auf sich zieht: Wohlstand, eine funktionierende Industrie, qualitativ hochwertige Lebensmittel, Planungs- und Organisationsfähigkeit.

Ständiger Vergleich mit Deutschland

Ich muss zugeben, ich finde es schon ein bisschen abgedroschen, wenn zu allem, was in Tschechien nicht gelingt, ein glänzendes Beispiel in Deutschland gesucht wird. Obwohl der Vergleich meist begründet ist. Auch ich erwische mich selbstverständlich bei derartigen Gedanken, wenn ich zum Beispiel auf meinen Reisen zwischen Berlin und Tschechien sehe, dass die Sanierung der Autobahn in der Bundesrepublik zum im Voraus geplanten Termin fertig wird. „Tja, davon können wird auf der D1 nur träumen“, kommt mir da in den Kopf.

Nach langjähriger Beobachtung bin ich der Meinung, dass sich die Beziehung der Tschechen zu Deutschland in zwei Lager teilt. Das eine bewundernd bis unkritisch. Es geht aus der nahezu unbarmherzigen Wahrnehmung des eigenen Landes hervor, aus der Erwartung, dass die Dinge besser laufen könnten und der anschließenden Enttäuschung, dass dem nicht so ist. Es ist das Bewusstsein eines allgegenwärtigen Schlendrians, der nach besseren Beispielen lechzt. Deutschland dient hier als idealisierter Kontrast zu allem, was in Tschechien nicht gelingt.

Das andere Lager ist nicht von Bewunderung, sondern von böswilliger Schadenfreude geprägt. Grundlage dafür ist der Minderwertigkeitskomplex einer kleinen Nation, die das Bedürfnis verspürt, ihr Selbstbewusstsein dadurch zu stärken, dass sie mit Genugtuung und ausgestrecktem Zeigefinger auf die scheinbaren und tatsächlichen Fehltritte der Größeren deutet, um sich danach selbst besser fühlen zu können. Am deutlichsten zeigte sich dieses Verhältnis zu Deutschland wohl während der Migrationskrise.

Weit weg vom Ideal

Was ich beschreibe, sind Extreme, bei denen das tschechische Verhältnis zu Deutschland unterschiedlich intensiv mitschwingt. Mir gefällt keines davon. Das Ideal ist meiner Meinung nach ein gesundes Selbstbewusstsein, untermauert von einer fairen Selbstreflexion.

Hans-Jörg Schmidt, den langjährigen Korrespondenten in Tschechien, schätze ich sehr, unter anderem als ausgezeichneten Kenner der tschechischen Gesellschaft und des tschechischen Geistes. Wenn er den tschechischen Minderwertigkeitskomplex gegenüber dem größeren Nachbarn erwähnt, weiß er sehr gut, wovon er spricht. Genauso gut kann ich seine Empörung über die Entscheidung des, mittlerweile ehemaligen, Gesundheitsministers Jan Blatný verstehen, tschechische Coronapatienten aus dem Egerer (Cheber) Krankenhaus in weit entfernte Kliniken im Inland zu verlegen, obwohl die deutschen Krankenhäuser wenige Kilometer hinter der Grenze Hilfe anboten.

Ich stand nicht auf Blatnýs Seite. Bei der Diskussionsrunde gab ich lediglich eine Erklärung ab, warum die tschechische Regierung so lange zögerte, die deutsche Hilfe anzunehmen. Die tschechischen Patienten über die Grenze zu verlegen wäre ein Eingeständnis des eigenen Versagens gewesen und hätte das schlechte Management bezüglich der Pandemie betont. Nicht, dass zu dieser Zeit noch etwas zu verbergen gewesen wäre, denn das Versagen und das schlechte Management der Coronakrise war schon damals glasklar zu erkennen. Minister Blatný, beziehungsweise die tschechische Regierung, entschied aus politischer und keineswegs aus medizinischer Sicht. Das ist offensichtlich. Und es war eine schlechte Entscheidung, denn politische Interessen sollten nie schwerer gewichtet werden als Menschenleben.

Ablehnung durch Deutschland

Damit das Bild komplett ist, erwähnte ich auch das sächsische Krankenhaus in Zittau, einen Steinwurf von Reichenberg (Liberec) entfernt. Im Dezember war die sächsische Grenzregion sehr schwer von der Pandemie betroffen. Das dortige Krankenhaus stand am Rande seiner Kräfte, hatte nicht ausreichend Sauerstoff für alle Coronapatienten, die ihn brauchten, zur Verfügung. Der ortsansässige Chefarzt sprach von Triage. Damit ist die Einteilung der Patienten nach der Schwere ihrer Erkrankung gemeint. Die Patienten mussten in Krankenhäuser in größere Städte in Sachsen verlegt werden. Tschechiens ehemaliger Außenminister Tomáš Petříček bot damals Hilfe an. Das Reichenberger Krankenhaus lag in der Nähe. Sachsen nahm diese Hilfe nicht in Anspruch, denn einerseits gab es noch eigene freie Kapazitäten in anderen Regionen und andererseits – das spielte sicher auch eine Rolle – wäre es ein Armutszeugnis für die Landesregierung in Dresden gewesen.

Pavel Polák denikn web

Pavel Polák. Foto: Deník N

Ich lebe in beiden Ländern und mein Blick auf sie ist daher zweiseitig. Ich denke nicht, dass die Epidemie die deutsch-tschechischen Beziehungen beeinträchtigen und zerstören kann, was hier die letzten dreißig Jahre gewachsen ist. Besonders die Menschen in den Grenzregionen nahmen die geschlossenen Grenzen als etwas sehr unnatürliches wahr. Das ist eine gute Nachricht über die nachbarschaftlichen Verhältnisse. Die entwickeln sich übrigens am besten und am natürlichsten, wenn sich die Politik gar nicht einmischt.

Der Autor ist Deutschland-Korrespondent der Tageszeitung Deník N und lebt seit Langem in Berlin.

Übersetzung: Anna Zubíková

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