Foto: Prager Burg - Bild: LE/tra

Der Übergriff der kommunistischen tschechoslowakischen Staatsmacht auf unpolitische Rockmusiker war Prager Dissidenten ausreichend Anlass, vor 40 Jahren die Menschenrechte einzufordern, die auch die ČSSR-Führung in der Schlussakte von Helsinki zugesichert hatte. Am Neujahrstag 1977 erblickte die Charta 77 das Licht der Welt, mit dem späteren Präsidenten Václav Havel als Hauptinitiator.

 

 

„Staatsfeindlich“, „demagogisch“, „anmaßend“, „selbsternannte Weltverbesserer“, „menschliches und politisches Strandgut“ – nein, die Chefs der kommunistischen Prager Parteizeitung „Rudé právo“ sparten nicht mit Schmähungen gegen die Autoren der Charta 77. An einer Stelle des damaligen Leitartikels schossen sie zudem ein peinliches Eigentor. Da warfen sie den Erstunterzeichnern vor, „einen Dialog mit der politischen und staatlichen Macht“ zu verlangen. Damit war klar, Partei und Staat lehnen einen Dialog mit ihren Landeskindern schlichtweg ab. 

Und es blieb nicht bei den verbalen Anfeindungen. Die Erstunterzeichner wurden „zugeführt“, man kriminalisierte und dämonisierte sie in der Öffentlichkeit, beraubte sie der Bewegungsfreiheit, wenn man sie nicht gleich für Jahre hinter Gitter sperrte. Mehr als 300 Chartisten wurden ins Exil vertrieben. Gleichzeitig wurden beispielsweise staatstreue Künstler genötigt, eine „Anti-Charta“ zu unterschreiben, darunter auch Karel Gott.

„Eigentlich wollten wir unserer Regierung nur helfen“, erinnerte sich die Prager Bürgerrechtlerin Irina Šiklová ironisch. In dem Gründungsdokument der Charta wurden die damaligen Machthaber lediglich daran erinnert, in der Tschechoslowakei die Menschenrechte gemäß der Schlussakte von Helsinki zu achten, die sie selbst unterzeichnet hatten. Das Gründungsdokument entstand „nicht als Aufruf zu ohnmächtigen Drohgebärden“, wie es einer der Autoren, der Philosoph Jan Patočka, später formuliert hat, sondern als „ein Aufruf zu einem Verhalten, das unter allen Umständen würdevoll bleibt, furchtlos, wahrhaftig, das einfach dadurch imponiert, dass es sich vom offiziellen Verhalten unterscheidet“. Neben Patočka waren auch die Schriftsteller Václav Havel, Ludvík Vaculík und Pavel Kohout unter den Erstunterzeichnern.

Das Entstehen der Charta 77 hing mit einem Prozess gegen eine Gruppe von Underground-Musikern zusammen, junge Leute ohne politische Vergangenheit und ohne oppositionelle Ambitionen. Ihr Name allein schon aber war den Mächtigen Provokation: „The Plastic People of the Universe“. Das klang nicht eben nach sozialistischem Menschenbild. Die jungen Leute aber spielten einfach Musik, die ihnen gefiel. Dem Partei- und Staatsapparat waren sie ein Dorn im Auge, weil sie sich nicht in den Rahmen der von ‚oben‘ geforderten Anpassung pressen ließen. Hier galt es, ein Exempel zu statuieren, an allen, die sich der Apathie, der Gleichschaltung und dem Gehorsam verweigerten, die letztlich versuchten, „in der Wahrheit zu leben“, wie es Havel ausgedrückt hat.

Havel und seine Freunde organisierten Protestaktionen, bezogen auch Prominente aus dem Ausland wie Heinrich Böll ein und verfassten schließlich die Charta, die auch von Christen und selbst von Reformkommunisten unterzeichnet wurde, die das Regime nach dem zerschlagenen Prager Frühling 1968 mundtot gemacht zu haben glaubte. Der Veröffentlichung des Gründungsdokuments am 1. Januar 1977 folgten in den nächsten Jahren 572 Dokumente, in denen sich die Verfasser vor allem zum Geschehen in ihrem Lande äußerten. Die Charta wurde so zu einer Plattform der Menschenrechtler, reichte jedoch kaum über den Kreis der Dissidenten hinaus. So schlossen sich ihr nur wenige Slowaken an. Trotzdem war mit der Charta 77 die Saat gelegt, die im November 1989 in der „Samtrevolution“ aufgehen sollte.

Mit dieser Revolution begann dann freilich auch folgerichtig die Sinnkrise. Der gemeinsame Gegner war bezwungen. Die Signatare engagierten sich in neuen politischen Gruppen oder Parteien. Im November 1992 beendete die Charta offiziell ihre Tätigkeit. Für manche, wie den Außenminister im Prager Frühling, Jiří Hájek, ein Moment der Wehmut: „Immerhin gehörte die Charta in Zeiten tiefer gesellschaftlicher Agonie zu den wichtigsten geistigen Wegbereitern des demokratischen Wandels in Mittelosteuropa. Aber sie hat ihre Aufgabe nun erfüllt.“

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