Foto: Lenka Ovčáčková bei der Premiere - Bild: LE/tra

Das Gratzener Bergland (Novohradské hory) erstreckt sich beiderseits der tschechisch-österreichischen Grenze. Diese lange vom Eisernen Vorhang durchtrennte und sehr ursprüngliche Gegend hat sich Lenka Ovčáčková für ihren bereits neunten Dokumentarfilm „Im Einen Alles, im All nur Eines“ ausgesucht. Die Premiere fand letzte Woche auf Einladung der Landesversammlung der deutschen Vereine in der Tschechischen Republik und des Verbands der Deutschen Region Prag und Mittelböhmen im Prager Haus der nationalen Minderheiten statt.

In Gesprächen mit derzeitigen und ehemaligen Bewohnern des Grenzgebiets nähert sich Lenka Ovčáčková den Besonderheiten dieser Region, die seit einem Vierteljahrhundert wieder mitten in Europa liegt und doch manchmal vergessen scheint. Als roter Faden dienen dem zweisprachigen Film Zitate des ganzheitlichen Naturwissenschaftlers Georg Franz August von Buquoy, der im 19. Jahrhundert hier lebte. Von ihm borgte sich Lenka Ovčáčková auch den Titel „Im Einen Alles, im All nur Eines“. Mit dem LandesEcho sprach die Regisseurin über ihren Film, das Gratzener Bergland und Grenzüberwindungen.

  

LE: „Im Einen Alles, im All nur Eines“ ist nicht ihr erster Film über eine Grenzlandschaft und ihre Bewohner. Was interessiert Sie an dieser Thematik?

Das Thema der Grenze fasziniert mich seit mehr als 20 Jahren. Es ist mir ein großes Anliegen auf eine subtile und philosophisch-poetische Weise dazu beizutragen, dass die Grenzen überwunden werden. Ich selber stamme auch aus einem Grenzgebiet – dem mährisch-slowakischen – aus den Weißen Karpaten. In meinen Filmen befasse ich mich aber derzeit auf eine ganzheitliche Weise mit dem ehemaligen Sudetenland, mit Grenzlandschaften, die durch unterschiedliche negative Ereignisse in der Geschichte geprägt sind, sei es der Zweite Weltkrieg, die Vertreibung der deutschen Bevölkerung nach dem Krieg oder die Zeit des Kommunismus. Darüber hinaus versuche ich – beruhend auf den gegenwärtigen Aktivitäten in unterschiedlichen Grenzräumen – den grenzüberschreitenden versöhnlichen Weg für die Zukunft wahrzunehmen und zu dokumentieren.

LE: Wie kamen Sie gerade auf das Gratzener Bergland als Drehort für „Im Einen Alles, im All nur Eines“?

Auf das Gratzener Bergland kam ich durch meine Dissertation, die sich mit der naturwissenschaftlichen monistischen Religion von Ernst Haeckel befasst. Im Zuge der Recherchen bin auf das Gedankengut von Graf Georg Franz August von Buquoy (1781-1851), der in Gratzen (Nové Hrady) gelebt hat, gestoßen. Seine polyglotte und vielschichtige naturphilosophisch geprägte Denkweise hat mich fasziniert und damals habe ich mich entschieden, einmal einen Film über die Region, in der er gelebt hat, zu machen und dabei Zitate aus seinen Werken durch den Film zu weben. Dazu kam noch die Besonderheit des Gratzener Berglandes, das oft als einzigartig und mystisch beschrieben wird. Und diese Tatsachen/Zeugnisse haben mich natürlich auch angezogen. 

LE: Insgesamt 38 Protagonisten hat „Im Einen Alles, im All nur Eines“, die allesamt von der Einzigartigkeit der Gegend schwärmen. Wie haben Sie das Gratzener Bergland und seine Bewohner selbst erlebt?

Das Gratzener Bergland ist wirklich eine einzigartige Gegend, die sich sowohl in der Geschichte als auch in der Gegenwart in denjenigen Menschen, die in dieser Landschaft leben oder gelebt haben, widerspiegelt. Ich habe mich und auch meine Interviewpartner oft gefragt: „Was ist es, das diese Besonderheit der Region ausmacht?“ Es gibt hier viele Wallfahrtsorte, die eine positive Ausstrahlung der Gegend bewirken, aber ich habe auch oft intensiv wahrgenommen, wie sehr diese Landschaft verletzt ist – durch die Ereignisse während des Krieges, durch die Vertreibung der deutschen Bevölkerung nach 1945, das Entstehen des Eisernen Vorhangs. Ich habe dieses Leid der Menschen in der Landschaft gespürt und deswegen sehr willkommen geheißen, Menschen kennenzulernen, die auf eine bewusste, aktive und kreative Weise dazu beitragen, diese Landschaft zu „heilen“ und grenzüberschreitende Wege zu gehen.

LE: Welche Geschichte in Ihrem Film hat Sie persönlich am meisten beeindruckt?

Es gibt Geschichten von zwei Orten, die mich sehr beeindruckt haben – von Zettwing (Cetviny) und Buchers (Pohoří na Šumavě). Beide Ortschaften, in denen früher über 1000 Leute gelebt haben, wurden im Zuge der Vertreibung der deutschen Bevölkerung und der Errichtung des Eisernen Vorhanges vollkommen zerstört. Stehengeblieben sind bis nach der Wende mehr oder weniger nur Kirchen, die vor allem durch das Engagement von österreichischer Seite renoviert und vor dem Verfall gerettet wurden, obwohl die Kirche in Buchers nur teilweise gerettet werden konnte, da 1999 wegen der akuten Baufälligkeit des Gebäudes der Kirchturm auf das Langhaus gestürzt war.

LE: Im Film wird viel von der Notwendigkeit einer grenzüberschreitenden Kontaktaufnahme zwischen Tschechen und Österreichern gesprochen, die nur teilweise gelingt. Woran mangelt es noch?

Ich denke, es mangelt an der Überwindung der noch immer bestehenden inneren Grenzen, die vielen Menschen im Grenzgebiet sowohl auf der tschechischen als auch auf der österreichischen Seite noch immer eigen sind. Und diese „innere Grenzen“ hängen oft damit zusammen, dass man noch keine wirkliche Gelegenheit hatte, die Menschen von der anderen Seite auf eine tiefere Weise kennenzulernen. Es ist wichtig, dass grenzüberschreitende Begegnungen ganz natürlich entstehen, ohne dass der Impuls von außen kommen muss. Die andere Frage ist natürlich die sprachliche Barriere, die dieses Begegnen schwerer macht. Diese kann meiner Meinung nach nur durch das Aneignen der anderen Sprache – von beiden Seiten – überwunden werden und dies sollte ganz selbstverständlich werden.

LE: Dies ist bereits Ihr neunter Film. Planen Sie schon Film Nummer zehn? Wohin zieht es sie diesmal?

Ich trage ganz viele Ideen in mir, die ich gerne auf eine filmische Weise umsetzen würde. Aber dadurch, dass ich gleichzeitig an der Karlsuniversität im Rahmen eines Forschungsprojektes über die Geschichte der deutschen Karlsuniversität Prag zwischen 1920 und 1939 angestellt bin, bleibt mir oft für das Filmemachen nur die Zeit an Abenden und Wochenenden. Deswegen habe ich mich entschieden, jetzt mindestens ein Jahr eine Pause zu machen und mich eher auf die Vorführungen der bereits entstandenen Filme zu konzentrieren.

LE: Welchen Erkenntnisgewinn haben Sie als Historikerin aus Ihren Gesprächen mit den Bewohnern der Grenzregionen ziehen können?

Ich muss gestehen – obwohl ich mich in den geschichtlichen Ereignissen gut orientieren kann und mich auch wissenschaftlich mit diesen Themen befasse –  dass für mich jede Begegnung mit einem Interviewpartner eine große Bereicherung ist, denn jeder reflektiert die Geschehnisse in der Geschichte auf eine subjektive und einzigartige Weise und trägt ein anderes wunderbares Wissen in sich. Die auf den Grundlagen der Oral History beruhende Herangehensweise  an die Themen, die das Gratzener Bergland betreffen, stellt die beste Möglichkeit dar, das Wissen der Menschen – sowohl der Vertriebenen, der Deutschsprachigen, die in der Tschechoslowakei bleiben durften oder mussten, der Nachsiedler nach der Vertreibung als auch derjenigen, die erst nach der Wende nach 1989 in das Gratzener Bergland gekommen sind,  zu dokumentieren und dadurch vor dem Vergessen zu bewahren.

LE: Die Protagonisten Ihres Films sprechen sehr emotional über ihre verlorene, wiedergefundene oder ganz neue Heimat. War es schwer, diese Emotionen einzufangen? Gab es auch negative Eindrücke?

Bei Filmaufnahmen ist es für mich immer wichtig, besonders die emotionale Ebene der Erfahrung hervorzuheben und in diese Richtung stelle ich auch die Fragen bei den Interviews. Dadurch, dass ich alles selber aufnehme und mit den Interviewpartnern ganz alleine bin, können alle vollkommen natürlich und ungehemmt sein. Somit passiert es sehr oft, dass wir kein Interview machen, sondern ein wunderbares persönliches Gespräch führen. Negative Erfahrungen habe ich eigentlich nie gemacht.

LE: Die Premiere des Films im Haus der nationalen Minderheiten in Prag fand in Zusammenarbeit mit der Landesversammlung der deutschen Vereine in der Tschechischen Republik statt. Wie kam es zu dieser Kooperation? Hatten Sie schon vorher Kontakt zur deutschen Minderheit in Tschechien?

Die Kooperation mit der Landesversammlung entstand Ende Dezember 2016, als wir gemeinsam die Präsentation meines letzten Filmes „Tiefe Kontraste/Hluboké Kontrasty“ im Haus der nationalen Minderheiten vorbereitet haben. Nach dieser Veranstaltung habe ich mich entschieden, die Premiere meines neuen Filmes in Kooperation mit der Landesversammlung zu machen, weil ich damals wahrgenommen habe, dass  eine Grundlage für eine gute und fruchtbare Zusammenarbeit gelegt wurde. Über die Kooperation mit der Landesversammlung freue ich mich sehr und schätze auch ihre Professionalität.

LE: Bei der Premiere in Prag waren auch einige der Protagonisten anwesend. Wie waren ihre Reaktionen auf das Endprodukt, in das so viel Rohmaterial eingeflossen ist?

Bisher habe ich von meinen Interviewpartnern nur positive Reaktionen gehört und über diese Tatsache freue ich mich sehr, denn das 40-stündige Rohmaterial in einem Kunstwerk zu spiegeln und eine Linie zu schaffen, die sich durch den Film webt, war wirklich eine nicht einfache Aufgabe.

LE: Sie werden Ihren Film demnächst auch in weiteren Städten in Tschechien, aber auch in Deutschland und Österreich zeigen. Gibt es Pläne, auch darüber hinaus mit diesem oder einem ihrer anderen Filme auf Tour zu gehen?

Nach dem Entstehen des Filmes habe ich zwölf kommentierte Vorführungen, die mit einer anschließender Diskussion verbunden sind, geplant und diese werde ich – durch die finanzielle Unterstützung des Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds und der TU Dresden – in Tschechien und Deutschland bis Ende Juni verwirklichen können. Die österreichische Premiere des Filmes findet dann im Rahmen des 30. Internationalen Freistädter Filmfestivals „Der neue Heimatfilm“ im österreichischen Mühlviertel in Freistadt/Windhaag im August 2017 statt. Darüber hinaus möchte ich den Film Fernsehsendern sowohl in Tschechien als auch in Österreich und Deutschland anbieten.

LE: Glauben Sie, dass dies ein regionales Thema ist, oder die Grenzthematik allgemeine, mitteleuropäische Bedeutung hat?

Die Themen, die ich in meinen Filmen bearbeite, haben sowohl regionale als auch mitteleuropäische Bedeutung, denn die Tendenz, ein Thema aus einer ganzheitlich-poetischen Sicht anzugehen, ist – denke ich – vielen Menschen eigen. Dadurch sehe ich keine „Begrenzungen“ für die Verbreitung des Filmes nicht nur in anderen Grenzgebieten Europas, sondern auch an anderen Orten, wo es Menschen gibt, denen unsere gemeinsame europäische Vergangenheit und Zukunft am Herzen liegt.

 

 

Die Deutschlandpremiere von „Im Einen Alles, im All nur Eines“ mit einer Einführung von Lenka Ovčáčková und einer anschließenden Diskussionsrunde mit der Regisseurin und einigen Protagonisten des Films gibt es am 27. April um 19 Uhr im Kulturforum im Sudetendeutschen Haus (Hochstraße 8, München).

Trailer zu weiteren Filmen von Lenka Ovčáčková und weitere Informationen finden Sie auf der Videoplattform Vimeo (hier) und auf ihrer zweisprachigen Webseite: hier.

{flike}

Werden Sie noch heute LandesECHO-Leser.

Mit einem Abo des LandesECHO sind Sie immer auf dem Laufenden, was sich in den deutsch-tschechischen Beziehungen tut - in Politik, Gesellschaft, Wirtschaft oder Kultur. Sie unterstützen eine unabhängige, nichtkommerzielle und meinungsfreudige Zeitschrift. Außerdem erfahren Sie mehr über die deutsche Minderheit, ihre Geschichte und ihr Leben in der Tschechischen Republik. Für weitere Informationen klicken Sie hier.