Foto: Bahnhof in Brünlitz - Bild: LE/amo

Immer, wenn Petr Henzl Besuch aus dem Ausland bekommt, muss er tief in seiner Familiengeschichte kramen. Besuch aus dem Ausland bekommt der heute 85-Jährige öfters mal. Aus Deutschland, Polen oder Großbritannien waren sie schon bei ihm im Schönhengstgau. Denn dort in Henzls Heimatort Brünnlitz (Brněnec), wo die Zwittawa (Svitava) Böhmen und Mähren teilt, hat sich eine der hoffnungsvollsten Begebenheiten des Holocaust abgespielt. 

Die Geschichte eines bis heute unbequemen Helden, die 1994 durch den Film „Schindlers Liste“ weltbekannt wurde. Und Peter Henzl ist einer der wenigen noch lebenden Zeitzeugen. „Ich erinnere mich an einen polnischen Juden, den wir nach dem Krieg kurz bei uns zuhause untergebracht hatten“, erzählt Henzl. „Der musste immer wieder weinen, wenn er sagte ‚Nur dank Schindler habe ich überlebt‘“.

Es ist schon gegen Ende des Zweiten Weltkriegs, die Rote Armee rückt immer näher gen Westen, als Oskar Schindler, das NSDAP-Mitglied, das gerne zockt, feilscht und selbst die härtesten SS-Männer unter den Tisch säuft, 1200 Juden aus Krakau (Kraków) nach Brünnlitz in eine Außenstelle des KZ Groß-Rosen verlegen lässt. Wer auf Schindlers Liste steht, hat sein Leben gerettet. Denn primär geht es Schindler nicht darum, wie er der SS glauben macht, Kriegsmunition in Brünnlitz zu produzieren. Sondern darum, Menschen vor dem sicheren Tod in den Gaskammern zu retten. „Er war Vater,  Mutter und Gott in einer Person“, erinnert sich später eine der geretteten Frauen, die Schindler persönlich von der Rampe in Auschwitz nach Brünnlitz holte. „Sämtliche jüdische Arbeiter, die Häftlinge im Konzentrationslager in Plaschau, Groß-Rosen und Auschwitz waren, sprechen Dir, Schindler, hiermit aus tiefem Herzen unseren heißen Dank aus, wobei wir feststellen, dass wir es ausschließlich deinen Bemühungen zu verdanken haben, dass wir den Augenblick der Beendigung des Krieges erleben durften“, heißt es in einem Begleitschreiben, das die geretteten Juden Schindler und seiner Frau Emilie mitgeben, als die im Mai 1945 aus Brünnlitz fliehen.

Ruinen in Brünnlitz
Ruinen in Brünnlitz – Foto: LE/amo

„Schindlergauner“

„Persönlich habe ich Oskar Schindler nie bewusst kennengelernt, ich war damals ja noch ein Kind“, erzählt Petr Henzl. „Aber meine Tante kannte ihn gut“, meint Henzl und zwinkert. Im Haus der Tante in Brünnlitz hat Schindler gegen Kriegende ein paar Wochen lang gewohnt, der Onkel war an der Front. „Ich weiß nicht, ob die beiden ein Techtelmechtel hatten, Schindler war ja als Frauenheld bekannt“, sagt Henzl. Den Namen Schindler durfte man allerdings danach nicht mehr vor der Tante aussprechen. „Und wenn wir ihn dann doch mal erwähnt haben, warf sie nur die Hände in die Luft und rief: ‚Schindlergauner‘“.

Unter diesem Namen ist Oskar Schindler in seiner Heimatstadt Zwittau (Svitavy), in der er 1908 geboren wurde, bis heute bekannt. Der Ruf als Schulschwänzer, Schürzenjäger, Säufer und Spion klebt bis heute an ihm. „Schindler hat unter Canaris für die deutsche Abwehr gearbeitet“, weiß Petr Henzl. „Aber er hat eigentlich nur die tschechischen Grenzbefestigungen fotografiert und an die Deutschen weitergegeben, verraten hat er niemanden“, fügt er schnell hinzu.

Als Schindler wegen seiner Tätigkeit für die Abwehr 1938 im Hotel Ungar (heute Hotel Slávia) am Zwittauer Marktplatz verhaftet wird, sorgt das für einigen Unbill in der Familie von Jaroslav Novák. „Mein Urgroßvater hatte ein Wirtshaus in Zwittau, das Schindler oft und gerne frequentierte. Und weil Schindler viel trank und spielte, hatte er bei ihm Schulden“, erzählt er. „Sein Sohn, mein    Großvater, aber war als Polizist bei Schindlers Verhaftung dabei. Und mein Urgroßvater war deswegen auf ihn sauer, weil er fürchtete, er würde sein Geld nun erst recht nie wieder sehen.“ Wegen Spionage wurde Schindler damals zu zwei Monaten Haft verurteilt. Nach dem Münchner Abkommen kam er allerdings schon früher wieder frei. „Als die Deutschen kamen und von ihm wissen wollten, wer ihn damals verhaftet hat, sagte er nur, er wüsste es nicht. Er hat keinen der Polizisten verraten“, sagt Jaroslav Novák.

Gedenken im Konkurs

Der 49-jährige gebürtige Zwittauer, der seine Zeit zwischen dem Schönhengstgau, wo er nahe Brünnlitz ein altes Wirtshaus renoviert, und Prag, wo er als Experte für politische Kommunikation arbeitet, verbringt, hat schon seit langem einen großen Traum: Aus der alten Schindler-Fabrik in Brünnlitz möchte er eine Gedenkstätte machen. Die entsprechenden Pläne sind seit 2003 fix und fertig. Das Problem war bislang die Fabrik selbst.

Die wird nach dem Krieg wieder ihrer ursprünglichen Bestimmung als Textilfabrik zugeführt, als die sie 1839 vom Zwittauer Industriellen Moses Löw-Beer gegründet wurde. Unter verschiedenen Namen, der bekannteste von ihnen Vítka, produziert sie auch nach der Samtenen Revolution recht erfolgreich Textilien, zuletzt Sitzüberzüge für Autos. Sie liefert an Škoda, exportiert nach Skandinavien und verfügt über ein Stammkapital von 140 Millionen Kronen (2003: 4,7 Millionen Euro).

Doch 2003 gelingt es der Finanzgruppe CzechInvestments, die Fabrik für angeblich ein Zehntel ihres Werts zu kaufen. Gemunkelt wird, dass Mitglieder der Privatisierungskommission ihre Hände mit im Spiel hatten. Ein paar Monate später ist die Fabrik im Konkurs. Zwischen 2003 und 2010 wird das ehemalige KZ-Außenlager insgesamt dreimal verkauft. Die einstige Arche, die im Sturm des industrialisierten Massenmordes 1200 Menschen Schutz bot, wird zum Spielball von Betrügern. Jeder der neuen Eigentümer klaut, was es zu klauen gibt. „Sogar die alten Deckenbalken aus massivem Holz wurden ins Ausland verscherbelt“, schimpft Jaroslav Novák. Vom einstigen Stammkapital ist kein Heller mehr übrig, als die Fabrik 2009 geschlossen wird. Dafür umso mehr Schulden, die den Betrieb in den Konkurs getrieben haben. Erst im Frühjahr dieses Jahres wurden die Besitzverhältnisse geklärt, so dass eine zukünftige Gedenkstätte zumindest rechtlich grünes Licht hat.

Schindler Denkmal
Schindler Denkmal – Foto: LE/amo

Ungeliebter Sohn

Wie diese in Zwittau und Umgebung aufgenommen werden wird, bleibt abzusehen. Die Stadt trug sich schwer damit, ihrem berühmtberüchtigten Sohn überhaupt ein Gedenken zu widmen. Erst 1994, als in Zwittau die Vorpremiere von „Schindlers Liste“ stattfindet, lässt sich die Stadt dazu bewegen, Oskar Schindler, der auf dem Zionsberg in Jerusalem seine letzte Ruhestätte fand, ein Denkmal zu bauen. „An den unvergesslichen Lebensretter der 1200 verfolgten Juden“, steht da auf Deutsch und Tschechisch auf der einfachen Bronzetafel, die zwei Granitsäulen verbindet. Etwas abgelegen steht das Denkmal am Rande des Jan-Palach-Parks, genau gegenüber von Schindlers Elternhaus in der Polička Straße 24, einer Ausfallstraße am Stadtrand, die früher Iglauer Straße hieß. Eine Gedenktafel am Haus lehnt der Eigentümer ab.

„Wäre Oskar Schindler ein Tscheche gewesen, dann hätte er schon längst eine eigene Gedenkstätte“, sagt Radoslav Fikejz vom Städtischen Museum in Svitavy. Der Historiker ist Autor der Dauerausstellung „Die Suche nach dem Davidstern“, die dem Zwittauer Judenretter gewidmet ist und im Jahre 2000 eröffnet wurde. Das Museum der Stadt hat den vierzehn Ausstellungstafeln, die Schindlers Leben chronologisch nachvollziehen, einen Raum gewidmet, gleich neben der Ausstellung historischer Waschmaschinen, die zwar keinen Bezug zur Stadt hat, umso mehr aber bereits im Eingangsbereich des Museums angepriesen wird. „Schon komisch“, sagt Radoslav Fikejz, „in Israel wird dieser Mensch mit all seinen Ecken und Kanten hoch verehrt. Hier können wir ihm noch immer nicht verzeihen, dass er Deutscher war.“

Nr. 6421477

„Es wäre gut, hier eine Gedenkstätte für das ehemalige KZ Groß-Rosen zu haben. Gerade in der heutigen Zeit kann es nicht schaden, an Krieg, Fanatismus und Rassismus zu erinnern“, sagt die Historikerin Jitka Gruntová, Autorin des Buchs „Die Wahrheit über Oskar Schindler – Weshalb es Legenden über ‚gute‘ Nazis gibt“, die in Brüsau (Březová nad Svitavou) lebt.

Nur eines lehnt Gruntová, die von 2002 bis 2006 für die Kommunistische Partei im tschechischen Abgeordnetenhaus saß, kategorisch ab: „So eine Stätte darf kein Denkmal für Oskar Schindler werden, das wäre eine Schande.“ Für die 68-Jährige ist Oskar Schindler NSDAP-Mitglied Nummer 6421477 geblieben. „Der hat niemanden gerettet außer sich selbst“, erklärt Gruntová. Die „Schindlerjuden“, meint sie, hätten in Brünnlitz auch ohne Schindler überlebt.

Verwahrloste Fabrik
Verwahrloste Fabrik – Foto: LE/amo

Engel von Brünnlitz

„Das wohl kaum“, sagt Petr Henzl und schüttelt den Kopf. „Die Menschen dort hatten ja nichts zu essen, mein Vater und andere Arbeiter aus dem Ort haben ihnen ab und zu Kartoffeln oder mal ein Stück Brot zugesteckt“, erzählt er. Dennoch wären viele von ihnen in den letzten Kriegsmonaten wahrscheinlich verhungert. Wenn es nicht Emilie Schindler gegeben hätte. „Emilie Schindler war die, die sich für die Häftlinge in Brünnlitz eingesetzt hat, Oskar war ja kaum da“, sagt Petr Henzl. Es war Emilie, die in der Daubek-Mühle, die der Fabrik gegenüber liegt, vorstellig wurde, um Mehl für die Häftlinge zu bitten. Ein riskantes Unterfangen. Denn Emilie wusste nicht, dass sie bei der Daubek-Familie, den Betreibern der Mühle, tatsächlich auf offene Ohren und Hilfsbereitschaft treffen würde. Inmitten des zerstörten Europa, nur ein paar Zugstunden von der Unmenschlichkeit von Auschwitz entfernt, trafen in Brünnlitz Menschen aufeinander, die halfen. „Die Menschen haben überlebt. Und das ist, was zählt, nicht Schindlers Weibergeschichten“, erklärt Petr Henzl.

Emilie Schindler, ohne die dieses Wunder des Überlebens nie stattgefunden hätte, hat Henzl einmal kurz getroffen. Der deutsche Fernsehsender ZDF brachte 1994 die damals 87-Jährige anlässlich der Vorpremiere von „Schindlers Liste“ nach Brünnlitz, um einen kurzen Dokumentarfilm mit ihr zu drehen. „Ich erinnere mich, wie sie da mit trauriger Stimme beklagte, im Film so gut wie gar nicht vorzukommen“, sagt Petr Henzl. Obwohl sie diejenige war, die sich in Brünnlitz wie eine Mutter um die „Schindlerjuden“ kümmerte und unter großem Risiko dafür sorgte, dass sie nicht verhungern, ist sie immer im Schatten ihres Mannes geblieben.

Thomas Morse auf Spurensuche
Thomas Morse auf Spurensuche – Foto: LE/amo

Ein Umstand, den der Thomas Morse jetzt ändern möchte. Der 48-jährige amerikanische Filmkomponist, der vor ein paar Monaten von Hollywood nach Berlin übergesiedelt ist, hat eine Oper über Emilie Schindler geschrieben. „Ihre Geschichte verdient es erzählt zu werden“, sagt Morse (siehe LE-Interview: hier), der von Berlin nach Brünnlitz gereist ist, um seine Opernheldin und die Umstände, in denen sie damals lebte, besser zu verstehen. „Der dramatische Höhepunkt meiner Oper ist die Ankunft des Golleschau-Transports in Brünnlitz, wo Emilie ganz klar zur Lebensretterin wird“, sagt Morse.

Für ihn, der knapp drei Jahre lang an der Oper „Frau Schindler“ gearbeitet hat, die im März nächsten Jahres am renommierten Gärtnerplatztheater in München ihre Premiere feiern wird, ist die Geschichte von Emilie Schindler „unantastbar“. Es sei ein Gefühl der Verantwortung gewesen, diese Geschichte genau zu erzählen, das ihn an einem Montagmorgen Anfang Juli getrieben habe, in den nächsten Zug Richtung Schönhengstgau zu steigen, erzählt Morse. „Ich fühlte mich verpflichtet zu sehen, wo sich die Geschichte ereignet hat, den Geist dieser Ereignisse in mir zu absorbieren“, sagt er. Von Emilie Schindler und Brünnlitz zu erzählen, sieht der Musiker als Privileg. „Und wenn ich schon das Privileg habe, die Wahrheit zu erzählen, dann muss ich jedes Molekül dieser Wahrheit erforschen.“

Dieser Artikel erschien im LandesEcho 7/2016.

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